Spritzfahrt
Kurzgeschichte
In der Nacht habe ich meinen Bruder vom Flughafen abgeholt. Er überlegt sich in Stuttgart gelandet, nicht mehr dorthin zurückzukehren, wo er die letzten zwei Jahre verbracht hatte. Nach Kolumbien. Jetzt ist er erst einmal bei mir, weil Mama beerdigt wurde.
Mein Bruder hat sich verändert. Zum Positiven, soweit ich es auf den ersten Blick feststellen kann. Zu müde war er, um viele Worte zu verlieren. Doch seine Gedanken laufen bemerkenswert. Natürlich ist er immer noch derselbe: sensibel und provokativ, ein Rabauke mit Herz. Der große Bruder, wie ihn sich Mädchen ohne einen erträumen.
Ach, mein Bruder war zeitlebens auch seltsam. Als ich zum Stuttgart Airport fuhr, überfiel mich diese sonderbare Geschichte, die zu vergessen eigentlich unmöglich ist und die doch fern gewesen war, wie ausgelöscht. Verdrängt, würde meine Therapeutin berichtigen. Ich war gedankenverloren über die Vierspurige gerauscht, was mir gewöhnlich nicht passiert. Vor dem Autobahnkreuz kam noch die eine Brücke, unter der vier Blitzer fest installiert sind, die in Reih und Glied nur darauf warten, dass man mit überhöhter Geschwindigkeit vorbeirast. Wie ich ihnen in die Linsen blickte und auf die Bremse trat, sprang sie mich in einem Geistesblitz an: die Geschichte, die untrennbar mit uns verbunden ist. Diese Geschichte hat mich zu dem werden lassen, was mich heute als Erwachsene ausmacht. Ihr verdanke ich mein besonderes Talent. Alles wird mir auf einmal klar. Ich kann es nicht anders sagen: Ein zweites Mal traf sie mich wie der Blitz vom Himmel. Vor Schreck wäre ich einem Mercedes fast in die Seite gefahren.
Der Schreck steckt mir immer noch in den Knochen. Die Frage, wie mir das passieren konnte, dass ich um Haaresbreite einen Mercedes (ausgerechnet einen dunkellackierten) ramme, werde ich nicht los. Doch mein Bruder liegt nach seinem langen Flug mit dünnem Schlaf im Gästezimmer. Die Zwillinge schlummern auch. Ihr Vater wird sie um acht Uhr zum Hort abholen. Er weiß, dass er sie auf Punkt acht Uhr mitnehmen muss. Sobald die zwei weg sind, kann ich ihn zu unsrer Kindheit ausfragen. Jetzt, da Mama tot ist, können wir das Schweigegebot aufheben, das mich mit allen Gedanken allein ließ. Selbst mit meiner Therapeutin habe ich nicht über sie gesprochen. Im Kern handelt sie von einem Autounfall. Ich war recht jung, im Grundschulalter gewesen, älter als die Zwillinge heute. Mein Bruder muss ins erste Jahr des Gymnasiums gegangen sein.
Ich kann jeden einzelnen Eindruck in Erinnerung rufen, jedes gesprochene und gedachte Wort. Nicht, wie man sich gewöhnlich an eine Begebenheit erinnert, sondern in Form eines plastisch begehbaren Raums. In diesem Raum höre ich wieder meine Gedankenfetzen und die aller Anwesenden. Die Sprache von Gedanken ist noch seltsamer als mein Bruder. Sie bringt kaum einen Satz zu Ende und ergibt doch Sinn. Gedanken sind aber keine Erzählung. Mein interkognitives Gespür, das mir von dem Unfall an gegeben war, hat mir später zweifellos genützt. Nichts wurde so einfach, wie zu wissen, was in Schule, Studium oder Promotion erwartet wurde. Das innere Ohr hat mir die vielen beruflichen Möglichkeiten erst eröffnet. Bei einem Bewerbungsgespräch muss ich nur aussprechen, was der andere sich still wünscht. Mein Bruder ist da anders geraten. Von uns galt er als das Problemkind. Heute muss ich mir aber eingestehen, dass mich die Gabe des inneren Hörens (neben meinem Zwang, alles rationalisieren und ordnen zu müssen) immer wieder an den Rand des Abgrunds gebracht hat. Eine junge Frau, die überall lautlose Stimmen vernimmt, denen sich nicht mal ihr Gegenüber, der sie denkt, ganz bewusst wird, kann es in den Wahn treiben. Ich bin froh, dass die Zwillinge noch schlafen. In dreizehn Minuten ist es an der Zeit, dass sie aufwachen.
Wir fuhren mit dem Auto herum, ohne ein echtes Ziel zu haben. Unsere Eltern gaben vor, sich Häuser anzusehen, um eines davon zu kaufen. Tatsächlich war es Mama, die auf die Idee gekommen war, als wir noch sehr klein gewesen waren, die Familie ins Auto zu setzen und ziellos herumzufahren, wenn es daheim in großen Krach ausartete. Auf dem Beifahrersitz nahm sie den Hund zwischen ihre Beine. Mein Vater am Steuer seines Geschäftswagens folgte ihren Richtungsvorschlägen wortlos. Während sie sich auf den Verkehr konzentrieren mussten, konnten die Kinder aus dem Fenster einem monotonen Film zusehen: Wolken, Gebäude, manchmal ein Mensch. Wenn der Mensch Mama nicht gefiel, bezeichnete sie ihn als „abartig“. Sonst blieb es still. Was das gemeinsame Abendessen nicht vermochte, es ermöglichte der Benz.
Mein Bruder ist aufgestanden. …Wirklich fest schlief er nicht. Ein anstrengender Lebensabschnitt liegt hinter ihm. Von Stuttgart aus betrachtet, gleicht es einem Wunder, wie er sich in Südamerika durchgeschlagen hat. Er hatte das Glück, in schwierigen Lebenslagen an Frauen zu geraten, die es jedes Mal gut mit ihm meinten.
Die letzten Monate verbrachte er in Cartagena, nachdem er seine Freundin, eine Kolumbianerin aus Calí, sitzen gelassen hatte. Von Cartagena habe ich eine Postkarte am Kühlschrank hängen. Darauf notierte er mir bei seiner Ankunft eine neue Adresse und grüßte mich – ausdrücklich nur mich. Das Cartagena der Postkarte ist eine karibische Piratenstadt hinter historischer Fassade. Einst in einer Bucht versteckt, liegt es auf der Postkarte direkt am Meer. Immer noch sind seine bunten Gassen von einer Stadtmauer eingehegt. Außerhalb derer schließt das Sklavenviertel Gestemaní, die heutige Ausgehmeile, an, wo er in einem Hostel als Rezeptionist untergekommen war. Von dort konnte er morgens an die Nehrung joggen, entlang der wüsten Stahlglastürme, die sich am Meer aufreihen. Tag ein und Tag aus ist es schwül, 365 Tage im Jahr scheint die Sonne und regnet es von fünf bis sieben Uhr abends, bis das Tageslicht zur immer selben Zeit verschwindet. In Cartagena landen die Touristen aus Florida und hierhin retten sich die Mädchen aus Venezuela vor Elend und Hunger über die nahgelegene Grenze. Wenn es Nacht ist, stehen sie innerhalb der Stadtmauer auf den historischen Plätzen. Es sind hübsche Frauen darunter. Liebe, traurige und hoffnungslose Prostituierte, von denen sich mein Bruder mit zweien auf eine Bekanntschaft einließ. Man sagt dieser Hafenstadt nach, Hauptumschlagsplatz für das kolumbianische Kokain zu sein. Hier liegt auch die kolumbianische Marine. In diesem halben Jahr hat er wohl mehr erlebt, als ich in meinem gesamten Leben. So viele Ereignisse, über die mein Bruder nicht spricht und die einzeln in der Fülle verschwinden.
Ich lasse ihn erstmal seinen roten Reiserucksack auspacken, bevor ich ihn zu seinen Überlegungen zu seiner Zukunft befrage. Was er mir von seinen detaillierten Plänen für die kommenden Monate erzählen wird, interessiert mich natürlich. Er hat sich vieles vorgenommen. Vielleicht zu viel. Aber das sind seine Vorstellungen, nicht meine. Ich habe Jahre gebraucht, um mich vom Unausgesprochenen meines Gegenübers abgrenzen zu können. Ungeduldig bin ich nur, was unsere gemeinsame Geschichte betrifft und zu der er bis hierhin noch keinen Gedanken verloren hat. Sie kann ich nicht warten lassen, bis wir abgeholt werden.
Mit dieser Leyda aus Calí hielt er es sage und schreibe dreihundertachtundachtzig Tage aus. Seine längste Zeit an einem Ort in Kolumbien und in Südamerika überhaupt verbrachte er in Salento mit ihr. Nach zwei Jahren Irrfahrt durch den Kontinent hatte er mir ein Foto von sich und Leyda geschickt, weil es zum ersten Mal etwas Ernstes sei. Ein nettes Gesicht, eine etwas knollige Nase. Er war ihr in diesem Touristendorf in der Kaffeeregion, das im kolumbianischen Landesinneren liegt, an einem trögen Sonntagmittag über den Weg gelaufen. Leyda war mit ihrer besten Freundin und den Hunden unterwegs zu den Wasserfällen, als er sie nach einer Kaffeeplantage fragte. Auf dem Weg sprang das Militär aus dem Gestrüpp und durchsuchten die drei. Als sie unter den eiskalten Wasserfall tauchten, glaubte Leydas Freundin, im Dickicht Guerillas zu erspähen.
Später haben die zwei in Salento eine Hütte bezogen und, weil das Geld für den Kredit nicht ausreichte, einen jungen Venezolaner, vor dem Exil Buchhalter, der nun in einem Café servierte, zur Untermiete genommen. Für mich ist es eine Hütte mit einem Wellblechdach. Für die drei war es ein eigenes Heim aus Stein. Da gab es zwei Schlafkammern, Bad und den Eingangsbereich, in dem bereits eine Kochnische mit metallenem Spülbecken eingebaut war. Die unverputzten Wände strichen mein Bruder und seine Freundin selbst. Die gelbe Farbe kostete umgerechnet fünfundzwanzig Euro fünfzig. Nach zwei Tagen war sie getrocknet.
Vorhin hat mein Bruder davon geträumt, wie Leyda sechs Tage die Woche um sechs Uhr zweiundzwanzig den Bus nach Pereira nimmt, um zu ihrer Ausbildung zur Konditorin zu kommen (der Bus kommt natürlich zu spät). Erst nach Einbruch der Dunkelheit kehrte sie zurück. Später wollte Leyda die Hütte zu einem Café umbauen und, enthusiastisch wie sie war, den Touristen den besten Kuchen der Kaffeeregion anbieten. Sie hatte gemeinsame Zukunftspläne. Aber die Umsetzung wurde ihm zu beschwerlich, weil die Eltern auch auf seine Bitte keine Euros überwiesen und man sein Auskommen zu den landesüblichen Hungerlöhnen verdienen musste. Im Wachwerden fragt sich mein Bruder, was Leyda jetzt wohl in Calí treibt, wohin sie nun zurückgezogen ist. Auch erinnert er sich auch an den Pfad zum Hostel auf der anderen Talseite. In dem frisch fertiggestellten, mehrstöckiger Holzbau arbeitete er an der Rezeption Schicht. Zwischen zwei Bananenstauden checkten die Touristen ein, wurden von ihm abkassiert, die Abläufe der Putzfrauen und der Küchenpersonals koordiniert, Touren zu Parks und Plantagen geplant. Die restliche Zeit las er, kiffte, kokste und trank viel mit den Gästen. Wie er es schon lange zu tun pflegte. Am Abend holte Leyda ihn gern ab, um mit ihm die Stiege, die am Kopf des Dorfes lag, hinaufzuklettern. Von oben schauten die zwei auf die paar Lichter des Dorfes inmitten des Dickichts. Was konnte man in diesem Cowboynest mit seinen Planstraßen und Steinhütten entlang der Fluren noch anderes tun, als sich Tagträume von einem künftigen Leben zu erzählen, das nicht eintrat? Mein Bruder meint, es war zum Scheitern verurteilt. Hunde von unten bellten durch die Nacht. Der Wald im Rücken regte sich und er zirpte in einem fort. Bis sich manchmal alles Getier verabredete, für Minuten in Totenstille zu auszuharren. Dann setzte wieder ein erstes Grätzens ein und alles Getier sprang auf, um einen Lärm zu veranstalten, der mit der Nacht verschmolz. In der Gefahr, von Tier und Guerillos attackiert zu werden, hätte ich es da oben nicht eine Minute ausgehalten. Im Grunde aber ist es eine eintönige Nacht in Salento, fern des versorgten Lebens, das sich die Touristen dort gönnen. Ihm ging am Ende das Abenteuer ab. Außerdem, so vernehme ich das, hatte er es dort nur so lange ausgehalten, weil er mit Leydas Unterstützung in Kolumbien bleiben konnte.
Mein Bruder, jetzt hast du die Badtür hinter dir verschlossen. Bitte lass alles so stehen, wie du es vorfindest! Du bist noch durch den Wind. Du bist nicht in den Tiefschlaf gekommen. Ich lasse mir deine Wäsche aus dem Rucksack vor die Waschmaschine legen und lasse dich zuvor jedes Kleidungsstück einzeln ausschütteln. Aus dem Fenster! Denn ich gerate in Panik vor diesem südamerikanischen Getier; vor einer Spinnenattacke oder einem giftigen Frosch, der sich in einem deiner Shirts, in deinen Badeshorts versteckt. Du lachst, denn überlebt hätte den langen Flug nichts. Aber mich nagt die Angst, du würdest aus meinem Bad dein Südamerika machen. Getier, Dreck, Unordnung.
Entgegen der Ahnungslosigkeit der Fremden schiebt man von Chile bis Kolumbien Autotüren sachte ins Schloss. Man schlägt sie unter keinen Umständen zu. Auch unser Vater war stets darauf bedacht, dass sich die Türen seines Wagens behutsam schließen. Seine Geschäftswagen bezeichne sogar ich als scheckheftgepflegt. Bevor wir einen bestiegen, klopften sie unsere Schuhe ab, auch wenn wir nur den gepflasterten Weg von der Haustür gekommen waren, den er wochenends abzusaugen pflegte. Weswegen sie uns ins Auto setzten und worüber sie sich stritten, brachten wir nicht in Erfahrung. Immer öfters, bevor ihre Tränen flossen, Türen knallten, das eisige Schweigen sich über uns legte, griff auch unser Vater die Idee der Spritzfahrt auf. Dann hieß es wieder ein neues Haus zu kaufen. Nach dem Unfall las ich in Mamas Gedanken von ihrem wahren Interesse an manchen Häusern. Hinter deren geputzten Fassaden komponierte sie sich ein passgenaues Familienleben zurecht. Eines, das sich bei der kleinsten Unstimmigkeit mit samt seiner Harmonien in Luft auflöste.
Mama ist vor sechsundzwanzig Tagen verstorben. Seit vergangener Woche hat sie über sich einen schlichten Grabstein. Wenn sie sehen würde, wer tagsüber an ihrem Grabstein vorbeigeht, würde sie ächzten: abartig. Als sie die Familie in den Benz setze, legte sie zu uns eine dunkelgrüne Decke, mit der wir es uns gemütlich machen sollten. Aber die Decke war bald Zankapfel. Mein Bruder und ich zogen an ihr schon auf dem Weg zum Auto, bis es zur Regel wurde, dass sich erst der eine und dann die andere alleine darunter kuschelte. Wie gesagt, mein Bruder war schon etwas älter. Peinlich war es ihm. Fremdbestimmt musste er auf der Rücksitz Platz nehmen und hatte mitzufahren, wohin die Eltern bestimmten. Unter der Decke vergrub er sich mit seinem Buch und lugte, um nicht entdeckt zu werden, durch einen Spalt, die vorbeirauschende Welt zu beobachten. Die Geschichte einer Kinderbande, dessen Titel er inzwischen vergessen hat (Vorstadtkrokodile), las er allein im Auto dreimal. Ich spielte mit Papas privatem Smartphone.
Sie hatten schon lange ihre Sorgen mit ihm. Gleich mit den ersten Zensuren in der Grundschule blieb er hinter den Erwartungen zurück. Später erhielten sie Anrufe vom Rektor, weil er Mädchen schlug. Zum Beginn des Gymnasiums wurden sie von der Klassenlehrerin zum Gespräch gebeten, weil er sich während des Unterrichts obszön berührte und seine Mitschülerinnen betatschte. Er versuchte, zwischen ihre Beine zu kommen. Auch wenn sie im Gespräch mit der Schule die Nerven behielten, zuhause herrschte Alarmzustand. Mama schrie in Panik versetzt: pervers. Und unter Tränen: abartig. Hysterisch stürzte sie sich erst in Anklagen und schließlich in wortlose Verzweiflung. Da gab es Tage, die blieb sie ganz im Bett. Wenn unser Vater von der Arbeit kam, begann zumindest wieder das Gekreische. Am Ende saßen wir gemeinsam im Auto.
Der Unfall muss sich an einem Samstag zugetragen haben. Denn es passierte morgens, als die Eltern mal wieder ein Haus kaufen fuhren. Mein Bruder verschwand mit seinem Buch unter der dicken Decke. Er klemmte sie zwischen Lehne und Kopfstütze zu einem Zelt zusammen. Durch den Schlitz erspähte er Lastwagenfahrer und Hausdächer. Dann zog er sich die Hose runter und begann an seinem Penis herumzuspielen. „So ein kleiner Penis“, schrie Mama durchs Treppenhaus, nachdem die Klassenlehrerin darum gebeten hatte, mit ihm über die Vorkommnisse zu sprechen. Und: pervers, abartig! Abgekapselt massierte er an seinem unausgewachsenem Glied herum. Das hatte er schon des Öfteren unter der Decke getrieben. Er hatte daran gerieben, bis er es zu einem kindlichen Orgasmus brachte. Noch gab es keine Schambehaarung. Noch wusste er auch nicht, was eine Ejakulation ist. Ohne eine Konsequenz probierte alles mögliche. Er rieb, solange es ihm Spaß bereitete. So ganz für sich unter der Decke war er auch nicht mehr mit uns im Auto eingepfercht. Sondern wo ganz anders.
Nichts schmeckt. Vor dreiundzwanzig Minuten hätte ich das Frühstück zu mir nehmen sollen. Jetzt wären die Zwillingen dran. Aber ich habe sie nicht geweckt. Nicht mal ihr Brei steht bereit. In spätestens elf Minuten wird unser Vater herrisch zweimal klingeln, um mich und meinen Bruder zum Grab mitzunehmen. Die Zwillinge werden nicht abgeholt sein, wenngleich die achtundvierzig Stunden jetzt schon abgelaufen sind. Ich werde mehr als nur eine erlogene Ausrede zu hören bekommen.
Lange Zeit akzeptierte Mama das Versteckspiel ihres Sohnes. Noch war sie froh darüber, dass Ruhe herrschte. Diese einmalige Ruhe erlaubte es ihr, sich in ihre vielen ungelebten Familienentwürfe einzufantasieren. Doch je weniger Fassaden sie inspirieren konnten, desto heftiger stieß sie sich an der grünen Zeltdecke, die hinter ihrem Sitz gespannt war. Das glich einem Protestcamp. Noch nahm sie es hin, verkniff sie es sich. Sie biss auf die Zunge. Bis zu dem besagten Tag. Wir fuhren auf der Autobahn, regelmäßig zu schnell. Unser Vater fuhr gern auch auf, was sie ihn in Unruhe versetzte. Da kotzte sie es an, dass ihr Sohn – bockig wie er war – die Eintracht boykottierte, sich immerzu verweigerte. Just als mein Bruder zum ersten Mal in seinem Leben, und damit hatte er wahrlich nicht gerechnet, unter der Decke zu seiner eigenen Überraschung wie ein Ausgewachsener kam, zog sie ihm in der Explosion ihrer Wut die Decke weg. Blank saß er darunter und sein Ejakulation spritze nach vorn. Mama schrie wieder wie angestochen. Unser Vater verlor die Kontrolle. Der Fahrassistent übernahm. Ich sah die Tröpfchen schießen, wie Teilchen auf der Lederverkleidung um den Schalthebel landen. Sah zu, wie wir in der S-Klasse erst gegen die Leitplanke schlierten und im Gegensteuern einen Transporter tuschierten. Es sprühte Funken. Wir wurden gestoßen, bis es krachte, knallte, als entlud sich ein Monster aus Blech über uns. Wir drehten von der Fahrbahn. Ich erblickte sein weiße Fleisch, beim genauen Hinsehen zum ersten Mal in meinem Leben eine hart gewordenes Glied. Ich war ganz erstaunt darüber, das etwas da rauskam. Ich verstand intuitiv, dass er nicht in den Geschäftswagen pinkelte, sondern etwas Dubioses vor sich ging. Wir wurden auf die Seite gedrückt, überschlugen uns beinahe und kamen wie vom Unheil ausgekotzt auf einem unbestellten Acker auf allen Vieren zum Stehen.
Vater zog uns aus seinem Mercedes. Seine Sorge galt uns wie seinem Wagen, der im Nachgang von der Versicherung als Totalschaden eingestuft wurde. Ich habe noch im Ohr, wie ein PKW dem anderen auffährt. Der Autobahnverkehr kam gänzlich zum Erliegen. Mein Bruder war auf der Weite des Ackers zu einer sprachlosen Salzsäule erstarrt. Ich rannte durch die liegen gebliebenen Autos auf das Zwischengrün und hielt mich an der Schutzplanke fest. Blitzschnell reagierte Mama. Sie redete ihn schüttelnd auf meinen Bruder ein und instruierte unseren Vater. Mich ließ man. Auf der entgegengesetzten Fahrbahn verglich ich die gaffenden Gesichter im Schritttempo.
In Südamerika hatte mein Bruder oft Glück. Noch tags vor seinem Abflug wäre es beinahe um ihn geschehen. Wenn er Geld überhatte, ging er zum Mittagsessen hinüber ins Zentrum, in eine Bar unweit der Universität. Meist vertrieb er sich davor die Zeit in den begrünten Arkaden des barocken Universitätsinnenhofs, döste auf ihren Holzbänken, hielt sonst nach einer neuen Freundin unter den Grüppchen der Studentinnen Ausschau, schaute manchmal der Theaterprobe der Studenten zu, die in einer Arkadenecke von einer Palmenwand abgeschirmt stattfand. An dem Tag las er in Kurzgeschichten des Márquez. Wenn ihn der Hunger rief, packte er zusammen und machte sich hinüber in die Eckbar. Dort nahm das einfache Volk an den blauen Tischen sein Mittagessen sein. Fisch, Hähnchen, Bier. Üblicherweise aß er allein an einem Tisch, denn zu einem blonden Gringo setzen sich die Einheimischen nicht. Er blieb doch trotz seines perfekten Straßencastellano von viereinhalb Jahre Südamerika ein Fremder. An seinem letzten Tag waren aber alle Tische belegt. Ein Halbseidener hatte ihn beobachtet und bot ihm einen freien Stuhl an. Anschließend nahm er ihn erst auf einen Kaffee mit und dann zum Baden auf seine Yacht. Von der Yacht ist mein Bruder, als dieser Kerl, Jhon nannte er sich, sich ihm erigiert näherkam, Hals über Kopf ins Wasser gesprungen und die vier Kilometer ans Ufer zurückgeschwommen. Er hätte von Haien gefressen werden können.
Sie hat über die Jahre mehrmals nach dir gerufen. Das waren Momente, die sie als ihre schwächsten bezeichnete. Als sie an dem Nachmittag ein Hirnschlag vom Stuhl fallen ließ, erschrak sie noch darüber, sich an den Raspeln der Schwarzwälder Kirsch zu verschlucken. Ich saß ihr gegenüber. An dich konnte sie nicht mehr denken. Was dir in den Kopf schießt, wenn du an sie denkst… Ich erspare es mir. Trotzdem hast du dir ein One-way-Ticket von den letzten Ersparnissen gekauft, nachdem du erst zwei Wochen hin und her überlegt hattest. Du sagst dir heute, sie hätte einen Platz auf unserem Kontinent für dich frei gemacht.
Für den herbeieilenden Polizisten, der die Vernehmung leitete, bot sich erst ein Bild des Schreckens. Ineinander verhakte Karosserien und fünf Meter vierunddreißig von der Fahrbahn entfernt zum Liegen gekommen eine schwarze S-Klasse, offensichtlich Totalschaden. Doch auf den zweiten Blick, murmelte er in sich hinein: Alles halb so schlimm. „Halb so schlimm“. Das war der erste Gedanken eines anderen, den ich vernahm. Da vor ihm Sanitäter eingetroffen waren und erstaunlicherweise niemand ernsthaft körperlich verletzt worden war, konnte er sich sogleich an die Befragung machen. Wie aufgesagt wirkten auf ihn Vaters Worte, auch wenn er unserem Vater erst Glauben schenken wollte. Warum sollte jemand vorgeben, eingeschlafen zu sein. Immerhin bestätige auch Mama dessen Aussage vom Sekundenschlaf. Das Sonderbare war einfach mein Bruder. Starr hielt er seine hochgezogene Hose fest (das Ganze war ja sein Werk). Als er den Jungen befragen wollte, wurde jegliche Aussage durch die Eltern unterbunden. Unentwegt redeten sie dazwischen. Warum sollte ein Zehnjähriger nicht berichten, was er gesehen hatte?, suchte der Polizist nach einer Antwort. Doch nur, wenn der Junge am Hergang beteiligt gewesen wäre! Er versuchte es nochmals. War der nun ein großer Junge, der reden konnte, schon Jugend oder ein Kind? „Ein Kleinkind“ schrie Mama den Polizisten an, so wie ich dich jetzt anschreien möchte, weil du alles durcheinander bringst, weil du die Zwillinge aus dem Bett am Bad vorbei direkt in die Küche bringst. Aber ich lasse euch. Mama, warum hast du uns verlassen?
Mein Bruder, dir kommt wieder der Gedanke auf, ich sei unfähig zu einem selbstständigen Leben als Frau und Mutter. Soll ich dir darauf ungefragt antworten, dass ich alles in meiner Macht Stehende unternehme, den Alltag zu bewältigen? Es gelingt mir sogar hinzunehmen, dass die Zwillinge sechszehn Minuten nach Ablauf der achtundvierzig Stunden abgeholt werden. Aber unerträglich bleibt es doch! Du hast die Zwillinge sogar angezogen, nachdem du sie hattest schreien hören und mich regungslos auf dem Wohnzimmerteppich hattest liegen sehen. Obwohl sie überschlafen sind und du nicht ihr Vater bist, beruhigen sie sich. Viellicht weil ihr alle Jungs seid. Ihr Vater wird ja gleich bei ihnen sein. Ich kann schon seine Ausflüchte vernehmen. Überpünktlich klingelt auch unser Vater an der Haustür. Nervös dreimal. Auch er kann es nicht unterlassen, Vereinbarung nicht einzuhalten. Alles muss nach seinem Kopf gehen. In drei Stockwerken wird er auf dich treffen. Er hat sich vorgenommen zu schweigen. Seine Gram soll dich strafen. Ich steige mit euch in kein Auto mehr.
© Patrick Schneider, 2022