SIEG!
für die ganze Familie
Ein Kammerspiel
DAS VORWORT
Ein Netz an Kräften. Ohne Anfang und ohne Enden. Ein Wechselspiel von Wellen, immerwährend, anderorts. Morgen Zuwachs, heute Verlust, stets im Wandel. Im Ganzen nie ermüdend mal aus dieser Richtung strömend, dann in jene Richtung fließend, dort versiegend, hier aufstauend. Die Welt ist ein unabsehbarer Kreislauf ohne Einblick in den letzten Willen. Sie ist ein Markt ohne Innen und Außen. Das ist die Macht des Kapitals.
Für das menschliche Experiment sind diese Ströme Strukturen und Begehren, von denen man zumindest eine Ahnung hat, und in all dem Chaos ist unser Fortgang gemacht aus Ordnungen, Regeln und Vereinbarungen. Hier erst entsteht der soziale Körper und in der gemeinsamen Suchbewegung nach dem allgemeinen, wirtschaftlichen Fortschritt das Gemeinwesen. Das Gemeinwesen ist gleichwohl eine Variable, weil die gemeinschaftliche Gestaltung für uns nicht restlos berechenbar ist – wenn wir auch gerne der Gestalter wären. Der Mensch kann spekulieren. Es bleiben ihm die Wahrscheinlichkeiten, Prognosen und seine persönliche Anstrengung, das attraktivste Angebot abzugeben. Erst im Nachhinein, wenn die Ströme an ihm vorüber geflossen sind, erkennt er, ob er sich gut oder schlecht positioniert hat. Das Kapital entscheidet letztlich, wer es sich verdient. Reden wir nicht lange herum. Historisch entfaltet sich das Kapital als eine Beschleunigung, von der das Gemeinwesen und das Individuum rasch abgehängt werden, wenn man nicht achtsam ist. Unsere Lebenszeit ist begrenzt und die Entscheidungen, die wir getroffen haben, sind unwiderruflich. Zeit ist daher nie genügend vorhanden; vor allem nicht, wenn ein gedeihendes Gemeinwesen die Behäbigen mitnehmen möchte. War es nicht die demokratische Utopie, dass es für alle ausreichend da sein wird? Doch wäre es nicht das machbare Paradies, wenn jeder so viel hätte, dass er sich damit begnügen könnte? In diesem Paradies des gelungenen Gemeinwohls ist jeder Einzelne bereit, all seine Anstrengung aufzuwenden, welche schlechten Voraussetzungen er auch mitbringt – und weil kein Mensch dem anderen gleicht, erzielen einige Wenige einen Vorsprung. Die Menschen sind von Natur aus stark ausdifferenziert.
Dem Staat kommt schließlich die Aufgabe zu, den vielen Behäbigen zu helfen, den richtigen Weg einzuschlagen. Zugleich muss er die wenigen Begünstigten, die als gutes Beispiel vorangehen, von Generation zu Generation bewahren. Ohne die beispielhafte Familie könnte es am Ende kein gelingendes demokratisches System geben. Ihr Wohl ist aller Wohl. Auf sie kommt es – sozusagen – an.
Schauplätze
NEPAL
Deutsche Botschaft, Karger Pfad, Dorf der Rebellen, Heilige Stätte, 0Basislager, Tiefe Schlucht, Steile Wand und Gipfel des Mount Everest.
Personen
MAGRET
ist Mutter und Managerin. Sie bewirbt sich um den Vorsitz der Desertec Industrial AG. Magret tritt das Auswahlverfahren nicht zuletzt an, um ihren Marktwert schätzen zu lassen. Sie ist voller Erwartung.
FRANK
ist ihr Ehemann, Familienvater und Ex-Lobbyist. Frank hat vor Kurzem einen Herzinfarkt erlitten und benötigt im Augenblick etwas Quality Time. Er steckt in einem mentalen Tief und fragt sich, was mit ihm selbst in Zukunft anzufangen ist. Aber Frank freut sich.
NIKE
ist ihre Tochter und 15 Jahre alt. Sie besucht ein exzellentes Internat in Süddeutschland, das der Praxis Raum bietet. Über ihre Zukunft entscheidet sie selbst. Sie vertraut dem Rat der Eltern. Und Nike will Spaß.
FRIEDRICH
Ein Deutscher. Friedrich ist einst nach Nepal ausgewandert. Als Sozialarbeiter wurde er zwangsläufig zum maoistischen Rebellen, ist heute verwitwet und einziger Überlebender seines Dorfes. Jetzt trachtet er nach Rache. Bis zum bitteren Ende ist er ein Terrorist.
STAAT
Da sich die deutsche Nation als wirtschaftsstärkster Akteur im politischen Spiel durchgesetzt hat, besetzt die Bundesrepublik nach Gutdünken den Vorstandsvorsitz der Desertec Industrial AG – das neue Energiekonsortium der Europäischen Union. Das Pilotprojekt realisiert den größten, europäischen Energiepark auf dem afrikanischen Kontinent und erfordert eine mutige Führung.
PROLOG ZUR PRÜFUNG :
DEUTSCHE BOTSCHAFT IN KATHMANDU (1356 m)
STAAT
Es geht um unsere Zukunft! Deutschland sucht die Führungskraft. Diese Persönlichkeit wird das bedeutendste Projekt des anbrechenden Zeitalters der erneuerbaren Energien leiten: Desertec! Es geht um’s Ganze. Denn in Anbetracht der vielen politischen Spannungen stellt sich für uns alle die Frage, wie wir ohne einen Verlust unsere Energie vom europäischen Solarpark in der nordafrikanischen Wüste unter dem Mittelmeer hindurch bis zu uns nach Hause transportieren. Weil Deutschland über die Besetzung der wichtigsten Position entscheidet, hat es ein Auswahlprogramm ins Leben gerufen, das da heißt: SIEG! In Führung liegt eine aussichtsreiche Frau. Um zu gewinnen, muss auch sie mit ihrer Familie antreten.
MAGRET
Seien Sie herzlich gegrüßt! Ich heiße Magret. Ich bin gelungene Mutter und von Haus aus Ökonomin mit Doktorwürde. Mein Ziel ist es, den Vorsitz des Konsortiums zu übernehmen. Dafür werde ich den Mount Everest bezwingen, komme was wolle!
NIKE
Hallo. Ich bin Nike. Ich gehe zur Schule auf ein prominentes Internat und hab’ die zweithöchste Intelligenz in meiner Klasse und werde beruflich eine erfolgreiche Schriftstellerin. Kongruent dazu will ich auf einer der Eliteunis Neurologie studieren. Denn um über die Menschen schreiben zu können, muss man den Menschen erst einmal verstehen, sage ich immer. Ich tu alles dafür, dass meine Mutter diesen Berg da bezwingt!
FRANK
Mein Name ist Frank. Ich bin Ehemann von Magret und Vater auf zweitem Bildungsweg. Spaß beiseite. Ich hatte einen Herzinfarkt. Bis dahin war ich verantwortlich für die nachhaltige Gesprächskultur zwischen der Rüstungsindustrie und dem Entwicklungsministerium. Darüber wird in der Öffentlichkeit nur ungern gesprochen. Mit solch einer Aufgabe bin ich allein geblieben. In so einem Beruf macht man sich Sorgen, wo es anderen gut geht. Jetzt aber will ich alles tun, damit meine Frau diesen Berg bezwingt!
STAAT
Sehr geehrtes Gemeinwesen! In unserer Mitte ist eine Spitzenposition frei geworden und mehrere auserwählte Kandidat*innen kämpfen um diesen einen Arbeitsplatz. Jede und jeder hat Stärken und Defizite. Die Siegerin wird es verdient haben. Ihr winken ein entsprechendes Gehalt und eine individuelle Tantieme. Wir wollen offen legen, wie es sich mit dem Wettbewerb verhält. Die Aufgabe ist es, den Gipfel des höchsten Berges der Erde zu besteigen. Besteigen Sie den Mount Everest! Finden Sie selbst den Pfad nach oben! Es gibt Chancengleichheit. Es gibt keine Bevormundung. Keinen Führer. Keine Sauerstoffflasche. Nur dünne Luft.
Selbstverständlich gibt es eine Favoritin. Auch sie weiß nicht, wie weit die Konkurrenz gekommen ist. Wie ihre Konkurrenz soll sich diese Kandidatin mit ihrer Familie beweisen. Denn die Familie ist der Schaum, von dem die einzelne Blase ausgeht und mit ihrem Humankapital zu einer ganzen Sphäre werden kann. Und: Sie, wertes Publikum, sollen mitentscheiden. Sie haben die Möglichkeit der demokratischen Bürgerbeteiligung. Dieser Volksentscheid ist partizipativ. Sie haben eine Stimme. Sie tragen Verantwortung! Es geht um Ihre Stimme! Es ist Ihre Stimme!
ERSTE PRÜFUNG :
KARGER PFAD (1844 m)
NIKE
Ich werde alles der ganzen Welt berichten.
MAGRET
Keine Klagen!
NIKE
Ich lass mir gar nichts sagen.
FRANK
Wir haben uns gemeinsam entschieden.
NIKE
Gemeinsam? So ein Quatsch.
FRANK
Wir entscheiden in der Familie demokratisch.
NIKE
Wie demokratisch?
MAGRET
Plappere nicht alles unüberlegt nach. Nur der Herzinfarkt von deinem Vater kann uns noch zum Problem werden.
FRANK
Ich habe vor zwei Jahren meinen Abenteuerurlaub hier oben verbracht. Deine Mutter weiß nur zu gut, dass ich den Weg auf diesen Gipfel gestiegen bin, den sie erst einmal besiegen muss.
MAGRET
Damals ist er noch nicht hinter mir her gelaufen.
FRANK
Seitdem habe ich mich täglich trainiert.
MAGRET
Sag mir jemand, warum ich mir überhaupt Sorgen mache.
NIKE
Vielleicht werden mir diese Berge und Ödnis zu anstrengend.
FRANK
Teil dir deine Kräfte ein, Nike.
MAGRET
Kümmere du dich bitte um deine eigenen Kräfte.
NIKE
Boa! Ob es so weit ist, wie es scheint?
MAGRET
Wie gesagt, ich möchte vor allem vermeiden, dass er auf halbem Wege umdrehen muss…
NIKE
Bestimmt gibt es eine Abkürzung.
MAGRET
…auf dem Gipfel stehe ich sonst mit meiner Tochter allein da. Wie sieht das aus! Ein anderer nimmt meine Position ein, und mein Scheitern spricht sich noch überall herum.
FRANK
Deine Mutter glaubt wirklich, sie könnte sich auf dich mehr verlassen als auf mich. Dabei bist du eine reife Frau, wohnst bereits außer Haus und gehst deinen eigenen Weg.
MAGRET
Hör ihn dir an.
FRANK
Nike hat wenigstens einen Vater.
NIKE
Wenn es anstrengender wird, drehe ich um.
MAGRET
Sie will uns nur mit ihrem Aufmerksamkeitsdefizit verärgern.
FRANK
Sie schlägt ganz nach dir, wenn wir uns an dich in ihrem Alter erinnern.
MAGRET
Dein Vater sehnt sich nach allem, was jung ist, seit er seinen Herzinfarkt hatte.
FRANK
Deine Mutter hat sich mittlerweile von allem verabschiedet, was nach Jugendlichkeit aussieht.
MAGRET
Deine Mutter nimmt ausschließlich Rücksicht auf den Zustand deines Vaters.
FRANK
Immerhin klettere ich mit ihr nach oben.
NIKE
Am besten wir freuen uns jetzt schon auf die Ankunft.
MAGRET
Von dort oben werden wir die Aussicht auf den Rest der Welt genießen.
FRANK
Den Rest der Welt genießen.
NIKE
Den Rest der Welt genießen.
MAGRET
Die Vorfreude soll uns tragen.
FRANK
Aus den Erfahrungen meines Abenteuerurlaubs kann ich Euch sagen, dass es eine Selbstverständlichkeit nach oben braucht. Jedem Schritt muss man ansehen, dass man es verdient hat.
MAGRET
Wir werden nichts unversucht lassen.
FRANK
Wie sie sich mit jedem Schritt versucht, wird man noch aus 8848 Metern erkennen.
MAGRET
Dein Vater hängt wie ein nasser Sack an mir. Das sieht man auch.
FRANK
Sag ihr, sie soll ihre Aufgabe sportlich nehmen. Es werden Haltungsnoten vergeben.
MAGRET
Sag ihm, er soll nicht erwarten, dass ich ihn nach halber Strecke mittrage.
FRANK
Keine Sorge. Unsere Ehe wird seit jeher von der Liebe getragen.
MAGRET
Du irrst dich gewaltig. Nike, für ihn als Mann ist die Ehe ein reines Zweckbündnis. Erst hat er sie für die Steuer gebraucht, dann für seine Biografiearbeit, später für die Versorgung seines kranken Herzens und heute als Depot seiner Bosheit. Ich kann das akzeptieren. Aber eine Liebe kommt mir nicht mehr ins Haus. Erst recht nicht jetzt, wo es sich wieder lohnt, sie auszubeuten.
FRANK
Was deine Mutter mir auch immer in Rechnung stellt, Gefühle können sich ändern. Vor allem für eine Frau, die mit jedem Schritt nach oben an Attraktivität gewinnt. Meine Liebe.
MAGRET
Für mich rechnet sich die Liebe nicht, vor allem nicht bei einem abgearbeiteten Mann.
NIKE
Wenn es so weiter geht, kommen wir dann bis nach ganz oben?
MAGRET
Wir kommen dorthin, wenn du in dein Leben investierst.
FRANK
Der Aufstieg soll dir eine Lehre sein, dass das Leben mühsamer ist als ein bisschen Internat.
MAGRET
Ihre Ausbildung subventioniere ich mit meinem Verdienst.
FRANK
Ihre Ferien bezuschusse in der Regel ich.
MAGRET
Dafür könntest du Danke sagen!
FRANK
Sag wenigstens etwas Vernünftiges!
NIKE
Kannst du nicht hier unten einen Job bekommen?
FRANK
Sie will uns ein schlechtes Gewissen machen, weil du sie auf das Internat geschickt hast.
NIKE
Mir ist der Weg zu weit. Außerdem hätte ich wissen wollen, welche Qual das Leben ist, bevor ich auf die Welt gekommen bin.
MAGRET
Jeder muss sich seine Spitzenposition verdienen. Vor allem wir Frauen.
FRANK
Vor allem wir Männer sollten wieder beispielhaft vorangehen.
MAGRET
Was bringen sie unserer Zukunft eigentlich bei? Hast du als meine Tochter keine Ambitionen?
NIKE
Ich träume jede Nacht sehr viel und ich will einmal Schriftstellerin werden. Dann reise ich mein Leben lang um die Welt und berichte von den exotischsten Orten und Menschen und verdiene mit meinem Urlaub mein eigenes Kapital.
MAGRET
So ein Schwachsinn.
FRANK
Das kann sie nicht von mir haben.
MAGRET
Das hat sie aus dem Internat mitgebracht.
FRANK
Die Anstrengung wird dir deine Träumereien austreiben.
MAGRET
Nimm dir ein Beispiel an deiner Mutter.
FRANK
Sie ist von einer sinnvollen Tätigkeit ausgefüllt, die auch anderen Menschen hilft.
MAGRET
Irgendwoher kommt die Energie, die wir jeden Tag konsumieren.
FRANK
Auch du wirst später mal Verantwortung für ein Unternehmen tragen, und dein Unternehmen wird von erneuerbaren Energien begünstigt sein.
MAGRET
Dann werde ich es gewesen sein, die das ermöglicht hat. Nike! Sieh dir die Sonne dort oben an! Sie muss man sich auf Erden holen und verdienen.
FRANK
Sie strahlt nicht von selbst. Du musst Überzeugungsarbeit leisten in der Politik. Mit dieser Aufgabe hat Papa deine Familie ernährt.
NIKE
Bis Papa krank wurde.
MAGRET
Entscheidend ist zuletzt die Umsetzung des Projekts.
FRANK
Entscheidend ist die Durchsetzung eines Projekts.
MAGRET
Was willst du eigentlich, Frank?! Willst du ewig hinter mir herlaufen?
FRANK
Magret, ich werde dich wieder überholen. Denk daran, wenn du nicht weiterkommst und selbstverschuldet zusammenbrichst.
MAGRET
Eher bleibt dein Herz stehen wegen Zuviel dünner Luft.
FRANK
Die Luft hier oben beflügelt mich nur.
NIKE
Ich brauche eure Energie sowieso nicht. Denn ich werde eine anerkannte Schriftstellerin. Dazu benötige ich nur mein Selbst, meine Kreativität und meinen Reiseblog, auf dem ich von allen besonderen Orten der Welt berichte.
MAGRET
Vielleicht war sie unser einziger Fehler.
NIKE
Ich werde die ganze Zeit Urlaub machen und beim Urlaub Machen mein eigenes Kapital verdienen.
FRANK
Das musst du einfach überhören.
MAGRET
Sie ist meine Tochter.
FRANK
Ja, sie ist deine Tochter!
MAGRET
Sie wird auf mich zurückfallen.
FRANK
Du musst an deine Mutterliebe appellieren.
MAGRET
Träumst du nicht wenigstens manchmal Vernünftiges von deiner Zukunft?
NIKE
Heute Nacht habe ich geträumt, dass ich in einem fremden Land bin, unterwegs mit meinem Reiseblog vom Bahnhof zum Sechs-Sterne-Hotel, und ihr wart auch dabei als meine Gepäckträger. Dann kam ein Terrorist vorbei und hat euch die Kehlen aufgeschlitzt und mich in die Berge entführt. Ich habe mich ihm dann ganz hingegeben, ganz ohne Drogen.
MAGRET
Das verlangt zu viel von mir ab. Wir haben ihr nicht das Internat finanziert, damit sie mit solchen Phantasien auf uns trifft.
FRANK
Ich bin erschüttert. Wir sollten ihre Ausbildung noch mal überdenken. Sie sollte näher an der Praxis sein.
MAGRET
Dein Vater und ich haben demokratisch beschlossen, in Anbetracht deines Verhaltens und weil dein Vater zur Zeit zu Hause nutzlos und unzufrieden herumsitzt ohne eine Aufgabe, und auch seit seinem Herzinfarkt zu keiner herausragenden Leistung mehr fähig ist, haben wir entschieden, dass du zu uns ziehen wirst und von ihm erzogen, wenn ich da auch meine Vorbehalte habe, weil er auf Grund seiner Entwicklung nicht ganz als Vorbild dient. Ich werde mir an jedem Sonntag Bericht erstatten lassen.
FRANK
Dir ist wohl dein Verstand abhanden gekommen!
MAGRET
Dir ist wohl der Sinn für unsere Tochter abhanden gekommen!
FRANK
Du musst verstehen, dass deine Mutter keinen Vater hatte.
NIKE
Ich drehe um!
FRANK
Der hat sich nämlich…
MAGRET
Wenn du still weiter läufst, darfst du dir etwas wünschen.
FRANK
Ich wünsche mir eine endlose Auszeit von dem Hin-und-Her-Getrieben-Sein. Die Welt krankt doch an dieser ständigen Plagerei, immer mehr haben zu wollen. Es geht etwas fehl. Dieser Gedanke kommt einem nicht einfach so. Ich wünsche mir einen endlosen Urlaub unter der Sonne des Pazifiks mit Palmen und einem Horizont von türkisenem Meer, eine Hütte nahe dem Steg, alles ohne großen Aufwand, minimalistisch, stilvoll gehalten, klein aber fein, eine Hütte mit Rundumversorgung, einer totalen Verwöhnungsstufe, zum Verweilen, exklusiv, samt Kultur. Ein Paradies auf Erden! Spaß beiseite. Eine Verjüngungskur für meine Frau würde ausreichen. Oder eine Frau wie meine Frau vor dreißig Jahren. Etwas Frisches. Das wäre was! Gemeinsam leben wir dann in diesem Urlaubsparadies.
NIKE
Wenn ich oben angekommen bin, dann wünsch ich mir dafür einen eigenen Reiseblog mit viel Aufmerksamkeit und Anerkennung, mit dem ich immer um die Welt fliegen kann, jederzeit und wohin ich will, vierundzwanzig-sieben, und dafür Kapital bekomme. Klaro. Außerdem… wünsche ich mir viel Erfolg als Schriftstellerin und später, wenn ich noch größer bin, vielleicht einen eigenen Verlag für Blogs. Dann noch mal Bewunderung. Jemanden, der mir Liebe schenkt – und eine Familie.
MAGRET
Ich wünsche mir, angelangt zu sein auf dieser Spitzenposition, von wo aus ich die Lage überblicke und erkenne, dass keiner mir die Spitzenposition streitig machen kann. Dann gibt es eine Last, die auf jedem lastet, der sich als Privilegierten wahrnimmt, so dass ich mir auch wünsche, ein Mal entlastet zu sein von den Privilegien. Was soll man sich da noch wünschen? Ich wünsche mir eine Yacht.
NIKE
Wenn nicht sofort einer von deinem scheiß Deutschland daher kommt und uns nach oben fährt, drehe ich um!
MAGRET
Ich gehe davon aus, dass man uns nicht mit uns alleine lässt.
NIKE
Können wir nicht einen von den Einwohnern fragen?
MAGRET
Das hört sich nach meiner Tochter an.
NIKE
Du kaufst denen was, damit sie sich als uns verkleiden und für uns hoch marschieren.
MAGRET
Das ist das Vernünftigste in Anbetracht von Faulheit und Gebrechen.
FRANK
Irgendwo haben sie jemanden versteckt, der uns die gesamte Zeit beobachtet.
MAGRET
Ist es nicht seltsam, dass wir auf niemanden treffen?
DARUM PRÜFE, WER SICH EWIG BINDET :
DORF DER REBELLEN (2016 m)
FRIEDRICH
Ich war ein Liebender. Ich war ein Maoist, dann Guerillero. Ein deutscher Staatsbürger einmal vor langer Zeit, auch Sozialarbeiter. Vor sieben Jahren bin ich in diese kargen Berge von Nepal gekommen, um den Bitterärmsten zu helfen, der gröbsten Not zu entrinnen. Ich habe meinen Überfluss mit ihnen geteilt. Nun hat man unser Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Fern von daheim bin ich auch hier einsam zurückgeblieben. In diesem Krieg hat man mir alles genommen, nur nicht das Leben. Warum nur? Soll ich am Leben bleiben, damit man mir es weiter heimzahlen kann? Soll ich das Bild eines mangelhaften Menschen abgeben, der mit einem Defizit auf der Welt ist und dem nichts zu gönnen ist? Nicht einmal der Tod. Ich will mich an dieser Welt rächen. Mein letzter Wille ist es, die Täter und Profiteure zur Rechenschaft zu ziehen und ihnen jene gerechte Läuterung zu bescheren, die sich in sie hineinbrennt. In ihrer Funktionalität konnten sie zu lange vergessen, was das ist: echter Schweiß und echtes Blut.
FRANK
Schau einer an! Ein Mann. Abgestellt als Wegweiser. Er wird mir recht geben.
NIKE
Er sieht aus wie ein Terrorist.
FRANK
Das hier ist Magret, meine Frau 2.0. Spaß beiseite. Sie ist eine ganz erfolgreiche Frau der neuen Generation. Geschäftsfrau, Mutter und Fürsorgende. Sie müssen wissen, ich hatte einen Herzinfarkt. Sie hat sich um mein Wohl gesorgt und zur gleichen Zeit noch mehrere Firmen abgewickelt. Eine Frau aus Kraft und Freude. Sie wird alles tun, diesen Berg zu besteigen!
MAGRET
Das ist Frank. Ehemann, Privatier, Scheidungskind. Ein Mann der Aufopferung. Erst hat er von Herzen andere geopfert für seinen Erfolg und dann hat dieses Herz seinen Erfolg geopfert. Da stand er nun mit bösartigem Organ, leeren Händen und gebrochenem Selbstwert. Wie hat er sich aus dieser Tiefe heraus kämpfen müssen. Frank hat seinen inneren Mount Everest bereits bestiegen. Dabei habe ich das Rettungsseil gehalten und den Fahrstuhl gedrückt. Frank wird mir jetzt und hier helfen, meinen eigenen Gipfel zu erklimmen.
NIKE
Ich bin Nike.
FRIEDRICH
Ich bin Friedrich.
NIKE
Ich habe die zweithöchste Intelligenz in meiner Klasse und lebe außer Haus in einem berüchtigten Internat. Ich bin freiwillig mit meinen Eltern hier, denn ich bin erwachsen. Trotzdem unterstütze ich meine Mutter, dass sie ihren Berg bezwingt. Denn trotz meiner Geburt soll meine Mutter bis ganz nach oben kommen. Außerdem sage ich immer, ich bin weder naiv noch leicht zu haben.
FRIEDRICH
Ich bin Friedrich. Ich habe einmal geglaubt, dass nur ein Leben im Widerstand gerechtfertigt ist. Als ich hierher gekommen bin, wollte ich die Bürde der Tatenlosigkeit und des Zynismus einer ganzen Generation auf meinen Schultern tragen. Das ist jetzt vorbei. Sehen Sie hier die Reste von diesem ausgestorbenen Dorf. Darin sind wir alle eingegangen. Ich bin der letzte Überlebende. Ich habe an diesem Schicksal erkannt, dass ein richtiges Leben auch ein gutes sein muss. Außerdem bin ich das gute Leben wert.
MAGRET
Sehr klug! Sie sind ein reifer Mann.
NIKE
Du bist ein überreifer Mann.
FRANK
Sagen Sie den beiden Frauen, dass ich recht habe.
NIKE
Meine Eltern wollen auf diesen Gipfel da. Ich könnte aber mit dir eine total andere Richtung einschlagen.
FRIEDRICH
Ich bin dazu da, euch dorthin zu bringen, wo ihr hingehört.
MAGRET
Sie sind ein ganzer Kerl.
NIKE
Ich bin ein ganzes Weib.
MAGRET
Das beweis du in Zukunft!
FRANK
Er muss sich hier beweisen.
MAGRET
Wohin gehen wir?
NIKE
Ich bin für jede Veränderung offen, sage ich immer.
FRIEDRICH
Nach links.
FRANK
Ein verlogener Zeitgenosse sind Sie.
MAGRET
Habe ich es doch gewusst.
NIKE
Ich gehe mit dir, wohin du willst, weil ich eine eigenständige Person bin wie du.
MAGRET
Du stellst dich hinten an.
FRANK
Unser Weg führt weiterhin nach rechts.
MAGRET
Meinen Sie nicht auch, dass es geradeaus am schnellsten ist?
NIKE
Wir können uns trennen und irgendwann wieder treffen.
MAGRET
Du willst mit ihm alleine davonziehen. Dich habe ich nicht großgezogen. Es ist offensichtlich, dass du dich, meine eigene Tochter, so einem um den Hals wirfst für Sex, obwohl du dafür noch nicht geeignet bist. Friedrich, nicht ein einziges Haar hat sie an ihrem Körper.
NIKE
Du bist total neidisch auf meine Jugend.
MAGRET
Sie ist noch viel zu jung für Sie.
NIKE
Aber im Gegensatz zu dir geht es mir um etwas anderes, als um die eigene Politik oder was auch immer.
FRIEDRICH
Wo geht es hier um Politik?
FRANK
Das ist reine Privatsache.
MAGRET
Wir sind hier, um auf den Gipfel zu gelangen.
NIKE
Sie müssen ums Verrecken diesen Gipfel bezwingen, weil das der Familie, der Gesellschaft, dem Staat und Europa hilft.
FRIEDRICH
Eine Politik ist etwas anderes. Politik ist heute das, woran unsere Welt leidet. Diese Welt leidet an einem unersättlichen Reichtum, der einen Überfluss und eine Fettleibigkeit produziert, während Hundertmillionen Menschen verhungern. Es gibt einen Ausschluss breiter Teile der Bevölkerung aus dem Arbeitsprozess und damit einen Ausschluss von sozialer Anerkennung. Es gibt die Akkumulation des Kapitals bei den wenigen Begünstigten unter der Bedingung der Verarmung von Massen. Das alles ist nur zum Wohl einer kleinen globalisierten Elite, die in ausbeuterischer Absicht einen strukturellen Zwang unterstützt ohne Rücksicht auf Alter und Gesundheit. Ihre Herrschsucht wird erst durch den Ausschluss von Mitbestimmung befriedigt sein, sie forcieren den Ausverkauf der Demokratie durch die Verrechtlichung des Politischen. Es gibt die sophistische Selbstverständlichkeit bei den Angestellten, Beamten, Juristen, Funktionären und Lobbyisten, die dank ihres ach so kritischen Bedenkens wohlfeile Profiteure der Gegebenheiten sind und die Idee des sittlichen und des wahrhaftigen Lebens ad absurdum führen. Es gibt die technischen Möglichkeiten, die eine allgemeine Überwachung, Kontrolle und Bestrafung des einzelnen Lebens nahelegen. Es gibt die technische Möglichkeit der Vernichtung der gesamten Menschheit durch die atomaren und biochemischen Waffenarsenale – und damit die Auslieferung der Masse an die politisch Mächtigen dieser Welt. Es gibt digital gesteuerte Drohnen und Kampftechniken, die den realen Menschen und das Leiden virtualisieren und einen Krieg ermöglichen, der den Siegern kein Opfer und kein Ärgernis kostet. Es gibt den genetischen Eingriff in die Zusammenhänge der Natur ohne Rücksicht auf langfristige unkontrollierbare Risiken für jeden Menschen und jedes Tier. Zugleich nehmen wir das Aussterben von Tierarten in Kauf und den Hungertod von Menschen. Flüchtlingsströme überall, Klimawandel, Rückkehr der Religion und des Nationalismus auf der politischen Landkarte und damit des Extremismus, der sich nicht für das Diesseits interessiert. Letztlich gibt es angeblich eine Ratlosigkeit, was eine Kritik der Verhältnisse überhaupt noch bewirken kann, zu was überhaupt Philosophie und Kunst noch da sind, wenn sie sich nicht verkaufen. Es gibt den Humanismus nur noch auf der symbolischen Ebene als eine Propaganda gegen die revolutionäre Tat. Es gibt aber keine Menschenseele mehr, die ihr Leben für das Gute aufs Spiel setzt. Ich will jetzt nicht all unsere Probleme aufzählen, sonst sehen wir den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr, weil wir so viele Bäume pflanzen würden, dass wir den Wald nicht mehr sähen.
NIKE
Du bist es!
MAGRET
Ein authentischer Mann!
NIKE
Ich will mein Leben auch aufs Spiel setzen für das Gute.
MAGRET
Eine solche Performance ist Frank in seinem verletzten Stolz noch nicht gelungen.
NIKE
Für mich sind das ganz neue Töne. Von meinen Eltern habe ich so was nie zu hören bekommen.
MAGRET
Frank, sag du auch was!
FRANK
Ja.
NIKE
Was du da gesagt hast, das ist bestimmt alles total aktuell.
MAGRET
Sagen Sie, Friedrich, wo haben Sie so zu reden gelernt? Sie sind derart professionell.
FRIEDRICH
Ich habe meine Frau im politischen Kampf verloren.
NIKE
Dann bist du sexuell komplett ausgehungert.
MAGRET
Das macht uns alle sprachlos.
FRANK
Auch ich bin überzeugt, es sollte wieder mehr Menschen geben, die sich für Politik interessieren. Leider müssen wir rasch weiter und gehen ab durch die Mitte.
MAGRET
Ich entschuldige meinen Mann, der beinahe nichts mehr mit mir zu schaffen hat. Sehen Sie, wie er es mit der Angst bekommt. Wie schlaff er ist. Von einer Frau muss er sich mit nach oben ziehen lassen.
FRANK
Besser alle Gefahren vor Augen haben, als hier hängen zu bleiben.
FRIEDRICH Nicht jeder hat zu kämpfen gelernt.
MAGRET
Da sagen Sie Wahres.
NIKE
Manchmal muss Mann auch um nichts kämpfen. Manche Stücke vom Leben bekommt er einfach so.
FRIEDRICH
Die wichtigen Dinge im Leben muss man mit Gewalt erobern, denn gerade sie sind immer schon vergeben.
MAGRET
Soviel Wahrheit in einer ganzen Person! Frank, das ist unglaublich!
FRANK
Alles liegt an der vielen Höhenluft.
MAGRET
Ich selbst denke wie Sie. Es bringt eine Belohnung mit sich, wenn man nur richtig zu kämpfen weiß.
FRIEDRICH
In meinem Leben habe ich gelernt, dass von Wert ist, um was man kämpft. Ich sehe bei Ihnen, dass es sich lohnt.
NIKE
Bei mir gewinnst du auf jeden Fall.
FRANK
Wir sollten jetzt ganz schnell den Mittelweg wählen.
MAGRET
Ich bin mir meines Weges nicht mehr sicher bei so vielen Möglichkeiten. Links, rechts, Mitte. Jede Richtung hat ihre Nachteile und jede ihre Vorteile. Wir wollen sondieren, welche für uns die richtige ist. Demokratisch!
FRIEDRICH
Vor allem bei einer reifen Frau kämpfe ich gerne mit allen Mitteln. Sie erinnern mich an meine.
NIKE
Die es nicht mehr gibt.
FRIEDRICH
Aber wehren Sie sich nur ein bisschen. Da würden Sie mir sehr entgegenkommen.
MAGRET
Ich bin eine Frau, die Deutschlands beste Führungskraft sein wird, sobald sie auf diesen Gipfel gelangt. Werde ich da nicht viele politische Probleme verursachen, die Sie beklagen?
FRIEDRICH
Das ist mir Ansporn.
MAGRET
So eine Frau wird sich Ihnen niemals ergeben. Für so eine Frau sind Sie nicht gut genug.
FRIEDRICH
Seien Sie nicht so nervös.
MAGRET
Sie Erbärmlicher.
FRIEDRICH
Ihnen werde ich eine Lehre verpassen, an der sie zu tragen haben.
MAGRET
Sie denken nicht ernsthaft, ich würde von solchen kindischen Drohungen Gänsehaut bekommen.
FRANK
Mir läuft es kalt den Rücken runter.
MAGRET
Einfach nicht hinhören.
NIKE
Meine Eltern streiten sich ununterbrochen. Die können unglaublich widerlich zueinander sein. Friedrich, glaub mir. Meine Mutter ist so garstig und verhärtet, da lockt kein Mensch mehr eine Zärtlichkeit heraus.
FRIEDRICH
Ich sehe das von einer anderen Seite. Jeder Mensch hat die Chance, sich zu ändern.
NIKE
Ich selber bin als Frau noch ganz unversaut.
FRIEDRICH
Deine Mutter habe ich fast am Haken.
MAGRET
Selbst wenn Sie glauben, mich niederzuwerfen, treiben Sie es noch zu meinem eigenen Lustgewinn.
NIKE
Hör nur darauf, was ich dir sage.
FRANK
Hört nur, was ich zu sagen habe!
FRIEDRICH
Ich werde Ihnen keinen Spaß bereiten.
MAGRET
Ich werde mir einen Spaß bereiten. Der wird Ihnen ein Leid sein.
FRIEDRICH
Mein Spaß wird es sein, Sie ins Jenseits zu befördern.
MAGRET
Das sind nur Ihre kühnsten Träume.
NIKE
Von deiner Kampfeslust habe ich heute Nacht geträumt. Er ist es!
FRANK
Ich traue meinen Ohren nicht.
NIKE
Solch eine Rohheit wünscht sich jede emanzipierte Frau meiner Generation.
MAGRET
Wir werden sehen, ob Sie mich trotz Ihrer degenerierten Ausgangsposition erobern.
FRANK
Wenn wir so weitergehen, drehe ich um.
MAGRET
Für deinen Papa haben wir bereits einen Ersatz.
NIKE
Ich gehe in die Richtung von Friedrich. Ich habe es viel mehr verdient.
FRANK
Für ihn geht es nur nach links.
FRIEDRICH
Es geht nach rechts.
FRANK
Ich habe es gesagt!
MAGRET
Dir hört niemand mehr zu.
FRANK
Denn dort kommen wir an der heiligen Stätte vorbei.
FRIEDRICH
Dann weiter zum Basiscamp.
FRANK
Da habe ich meinen Abenteuerurlaub verbracht.
NIKE
Am Basiscamp machen wir es uns heimelig. Gemeinsam.
MAGRET
Gemeinsam geht es die steile Wand hinauf.
FRANK
Hier geht es auch einen tiefe Spalt hinunter.
MAGRET
Es geht an der steilen Wand obenauf.
FRIEDRICH
Auf den Gipfel.
MAGRET
Immer wieder!
NIKE
Auf den Gipfel!
(…)
© Patrick Schneider, 2016