SCARLETT
// meine diamanten sind von Cartier, du depp
Monolog
Der libysche Diktator Muammar al-Gaddafi wurde am 20. Oktober 2011 unter ungeklärten Umständen von Rebellen, Geheimdiensten oder Islamisten ermordet. Wie auch immer. Auch dieser Monolog, der zwei Tage vor al-Gaddafis Tod uraufgeführt wurde, behauptet dessen Ermordung. Damit sollte die fiktionale Dimension des Textes, der mit reelen Personen spielt, unterstrichen werden. Mit dem realen Tod aber hat die Realität die Fiktion eingeholt. Und jetzt? Die Figur Muammar al-Gaddafi ließe sich jederzeit durch einen anderen lebenden, extravaganten Diktator ersetzen. Keinesfalls darf der reale Tod des Subjekts den Diskurs des Textes zum Erliegen bringen!
24. Dezember 2011
Die zwölf Regeln zum vollen Erfolg
REGEL EINS :
Fang mit irgendetwas an!
SCARLETT Flughafen Schönefeld. Hier ist immer die Hölle los! Es ist alles so schrecklich überfüllt. Normalerweise liebe ich das. Im Normalfall liebe ich es, eine Armada von Menschen rennen zu sehen, weil bei denen irgendwelche Konflikte unterm Arsch brennen. Nur heute ist alles anders und so sonderbar. Heute bin ich selber von diesem ganzen Drama betroffen, dass es mich in Rage versetzen könnte, wenn ich nicht so schlau wäre und wüsste, dass es mich bis zum Schluss kalt lassen wird, was außerhalb meines Radius passiert, weil sowieso alles hier ich bin, Scarlett! Und zu mir gehört selbstredend auch mein munteres, gerissenes, schmuckes Smartphone, das alles kann und mit dem ich das hier alles gemacht habe, Texte kopiert, Gespräche kopiert, Personen kopiert, Texte rauswerfen, Gespräche beenden, Personen abwickeln. Klar, auch telefoniert! – Meine Freundinnen würden sich jetzt vor Lachen wegschmeißen. Aber es lacht keiner und, was das heißt, ist völlig klar. Freunde habe ich hier nicht. Aber auch das ist mir scheißegal, weil das hier alles sowieso ich bin und meine Welt lässt sich unendlich ausdehnen, wenn ich möchte, und außerhalb von mir gibt es keine Welt und kann mir die Welt auch gestohlen bleiben… abgesehen von dem winzig kleinen Umstand, dass ich hier und jetzt in dieser diffusen Masse an Körpern von Menschen in diesem hässlichen Flughafen diesen einen bestimmten Typ, der in echt aussieht wie irgendein Dahergelaufener, rausfischen muss, weil ich genau ihn für meinen Jahrhundertcoup brauche.
SCARLETT Meine potenziellen Freundinnen, im Normalfall würde ich an dieser Stelle erzählen, dass ich solche hässlichen Flughafenhallen wie hier liebe, wenn ich selber jetzt die wäre, die da aus dem Flieger steigt, um beispielsweise von meiner Lieblingsstadt Berlin nach Moskau geflogen zu sein, wobei Moskau in Wahrheit ein ganz belangloser Ort ist, und ich hier und jetzt nicht belanglos warten müsste, nur weil der Jonathan anfliegt, der aus Tokio kommt. Ja, der Jonathan. Ich sag’s mal so: Der Flughafen ist ein Ort, wo man abgeschossen wird. Da wird man zur Rakete. Das ist der einzige Ort, wo so etwas wie Träume und Gegenwart zugleich herrschen. Durch den Flughafen läuft man mit einem anderen Schritt, da ist man Individuum, da wird man als jemand erkannt, der etwas ist. Wobei ich vorwegschicken muss, sobald man absichtlich mit einem anderen Schritt läuft, die anderen Körper registrieren, dass man mit einem gewissen anderen Schritt läuft, gerade weil man mit einem gewissen anderen Schritt laufen möchte als die anderen, und gerade deswegen nicht als jemand erkannt wird, der etwas ist, sondern als ein Irgendjemand, was dann dem Flughafen den ganzen Reiz und jegliche Phantasie raubt. Deswegen bewegt man sich besser normal. Letztlich kommt es auf diesen feinen Unterschied an! Verstanden, meine potenziellen Freundinnen!? Das ist so ein Spiel, das man treibt. Aber ich bin hier und jetzt ja die Idiotin, die dumm rumsteht und wartet. Lächerlich! Wobei wichtig ist nur, dass der Kerl, auf den ich hier in Schönefeld warte… also der Jonathan, ja, der Jonathan Meese… Den kennt doch wirklich jeder, weswegen ich ihn eingeladen habe, oder sagen wir richtigerweise: eingekauft… Dass der Jonathan die ganze Zeit bei mir bleibt… Nein, dass ich die ganze Zeit bei Jonathan bleibe… Nein, dass Jonathan denkt, dass ich die ganze Zeit über bei ihm geblieben bin, damit er später, wenn er von der Kriminalpolizei gefragt wird, ohne zu Zappeln, was für ihn ziemlich schwierig werden dürfte, antwortet…
MEESE Ja, klaroooo!! Die Scarlett ist geil! Die ist die ganze Zeit bei mir gewesen, weil ich die liebe wie meine Mama. Die Scarlett, die hat sich die ganze scheiß reale Zeit lang um mich kümmert und nicht nur in der Kunst!
SCARLETT Ich sage euch, entweder erkenne ich den Jonathan in dieser Masse nicht oder er ist überhaupt nicht gelandet. Entweder ich drehe also an dieser Stelle um und lasse die ganze Kiste ins Wasser fallen, lasse die Party platzen, die Steine Diamanten sein, sage dem Fahrer, er soll sich verpissen, und scheiß’ auf den Jahrhundertraub und auf mein Leben oder…? – Zauberwort! Und während ich mir das denke, da steht er plötzlich vor mir, ohne dass ich ihn bis hierhin gesehen hätte, was mich schon etwas überrascht und an der Realität ein wenig zweifeln lässt. Aber er erkennt mich natürlich nicht, weil ich die ganze Zeit ja dumm rumstehe und mich nicht in diesem alles entscheidenden Schritt bewege. Und frei heraus, einfach weil ich mir frei heraus leisten kann, weil ich mir ja auch den Jonathan leisten kann…
SCARLETT Hey, Jonathan! Jonathan Meese! Du hier! Damit hätte ich nie gerechnet, dass du hierher kommst!
REGEL ZWEI :
Scratch your own itch!
SCARLETT Dann kann’s ja los gehen! Die geilsten Gäste der Stadt sind geladen, der Laden ist eingeräumt, die Pressehanseln sind vor der Tür, die Kameras auf Anschlag. Ich und der Jonathan werden bei Cartier vorfahren, roter Teppich, uns lieben alle, es ist ein Ereignis, er macht seine dämliche Show, ich greife unbeobachtet die Diamanten ab und dann brauche ich niemanden mehr, denn für mich muss keiner sorgen oder sich um mich Sorgen machen. Ich sorge schon für mich selbst!
SCARLETT Also los jetzt, Jonathan Meese! Deinen Koffer trägst du selber. Draußen wartet der Fahrer und der wartet nicht ewig.
MEESE Geil.
(…)
© Patrick Schneider, 2012