Ping Pong bei Nacht

Erzählung

Als wäre es gerade erst passiert, klopft es an meiner Erinnerung. Da steht Paula in der Tür. Die Bullen seien bei D. in der Bude, flennt sie. Dass die Bullen wieder eingerückt waren, überraschte mich nicht. Mich haute um, dass Messer-Paula weinen konnte. Ich wusste erst nicht, wohin mit mir. Also habe ich sie eintreten lassen und ausgefragt, damit sie von ihrem sonderbaren Geheule abließ. Sie hat mich sogar in die Arme genommen. Ich hätte nie geglaubt, dass ich Messer-Paula, die Männer Mordende und bessere Hälfte von D., jemals so innig umschlingen würde und dabei noch unbeschadet davonkäme. Unter Tränen klärte sie mich auf. Er ist jetzt vorausgegangen. D. ist tot. 

„Ice-D, ob du mitbekommst, dass es dich nicht mehr gibt? Oder holt uns am Ende ein allmächtiges Nichts?“, schluchzte Messer-Paula. Ich bewunderte sie von der ersten Stunde an für ihre philosophische Ader. „Wir haben nicht den blassesten Schimmer.“ Denn wir wären von der Natur abgeschnitten, so lange wir lebten. Mir drehte alles. Wir hassten alles Natürliche. Wir hassten das Leben und auch so sehr den Tod… Ich hatte keine Lust an der Sensation, den bleichen D. zur Salzsäule erstarrt auf seinem Sofa liegen zu sehen. Ich wollte auch nicht weinen müssen wie sie und habe Messer-Paula allein zurückgeschickt. Die Kripo klingle schon bei mir, wenn sie was wolle. Stattdessen hockte ich erst panisch, dann gedankenleer auf dem Bett und hielt mich an dem Moment der Umarmung mit Paula fest, an ihrem harten Rücken, an ihrer Brust, auf der sie das Tattoo eines zweischneidigen Jambia von zwanzig Zentimeter trug. Währenddessen ich so an sie dachte, stand zur selben Zeit hinter der Wand, die meine und seine Wohnung trennte, sein Bett und daneben das Sofa, auf dem D.‘s Naturreste aufgebahrt lagen. Später bin ich doch noch rüber. 

Mit D. sind fünf Jahre meines Lebens unwiderruflich dahingegangen. Heute befindet sich in seiner Bude eine Art Art-Kitchen. Es wird jetzt English-Pie gebacken und mit Design-Wein ausgeliefert. Das Stück English-Pie ab zwanzig Tacken. Das hat so gar nichts mehr mit ihm zu tun. Außer, dass die Betreiber den Style von Ice-D‘s Wohnung, wo ihnen möglich, beibehalten haben, um mit dieser unbeschreiblich eigenwilligen Raumästhetik hell ausgeleuchtet und abfotografiert auf Instagram zu punkten. So eine Wohnung hatten die Sozialen Medien noch nicht zu sehen bekommen. Eigentlich ist sie nicht zu sehen, denn sie ist im Schatten der Nacht vergangen. Das Geschäft scheint spitze zu laufen. Tage im Voraus muss bestellen, wer einen Pie samt Mash und Parsley Liquor Sauce geliefert haben möchte. Mir aber kommt jedes Mal das Kotzen, wenn ich vorbeigehe. Ich hätte einfach gern D. zurück. 

Ich bin selber ein Zugereister, wie man bei uns im Innenhof zu sagen pflegte. Einer auf der Durchreise, der an seiner vorletzten Station angekommen ist. Mein Umzug war eine Act gewesen, auch weil es geregnet hatte, vor allem aber weil es 1. Mai gewesen war. Der war fast auf den Tag genau vor fünf Jahren gewesen, kam es mir in den Sinn, wie ich mit der Kripo in D.’s Wohnung stand. Ich hatte das meiste Hab und Gut bei meiner Ex gelassen oder hergegeben, und die paar Mitbringsel waren rasch reingetragen von der Straße durch den Regen direkt durch den abgeranzten, vollgetagten Hausflur und über den schattigen Innenhof ins Seitenhaus. Erdgeschoss. Nur war es eben 1. Mai. Ich war gerade noch rechtzeitig angekommen, um meine sieben Sachen unbeschadet hineinzubekommen. Kaum waren sie drinnen, stand auch schon ein Abschleppwagen vor unserem Wohnhaus parat samt einem Six-Pack der Bullen. Denn 1. Mai meinte hier Revolutionäre Demo, die regelmäßig durch unsere Straße führte. Über meine Ahnungslosigkeit machte sich D. später lustig. Kaum waren die Bullen und der Abschleppwagen abgezogen, war er aus seiner Bude, die direkt neben meiner lag, gekrochen gekommen. 

Er kreischte irgendwas, so dass ich es erst mal mit der Angst bekommen habe, und umarmte mich überschwänglich. Wahrscheinlich ist er besoffen gewesen. Ein Kerl, ungefähr in meinem Alter, um die Dreißig. Schon auf den ersten Blick hatte er ein sympathisches, einnehmendes Lachen und ein aufgedrehtes Mundwerk, einen großartigen Sinn für gute Laune und Witz, einen dunklen Schnauzer und zurückgegeeltes schwarzes Haar. Eine massive Silberkette trug er über einem sauberen, weißen Muskelshirt. Nur Muskeln hatte D. keine und sollte auch keine mehr bekommen. Er war spindeldürr. Dass er ein Besonderer war, merkte man sofort. Was sagte meine Bekannte, die mit mir für den Umzug nach Berlin runter gefahren war? 

 „Vor dem musst du dich in achtnehmen, sag‘ ich dir.“ 

„Komm mit! Wir ballern und schauen draußen zu, wie’s knallt.“, klopfte es zweimal ans Fenster, denn alle Fenster meiner Erdgeschosswohnung gingen auf den Innenhof. Selbstverständlich scherte ihn das Politische einen Dreck. Auch die Hundertschafften ließen ihn kalt, obwohl er allen Grund dazu gehabt hätte, nervös zu werden. Wie Robo-Cops rannten die Bullen vor seiner Wohnung auf und ab und ließen sich artig vom Demonstrationszug beschimpfen. Was D. gefiel, war das Spektakel, das viele Blaulicht überall, die Maskeraden der Demonstrierenden, der Karneval des Politischen, die elektrische Spannung in der Luft und das Kribbeln im Bauch kurz vor der Eskalation. Der Demonstrationszug wollte kein Ende nehmen. Auf dem Kottbusser Damm brach er auseinander. Hubschrauber wummerten zu unserem Wohnhaus herüber. Da hatte ich bereits alles hineingetragen und meine Bekannte war mit dem Umzugswagen schon auf der Rückfahrt nach Bayern. Nur ich blieb brav mit den fünf, sechs unausgepackten Kisten zu Hause und bekam von all dem Scharmützel und von D.‘s Streifzügen in der Menschenmenge nichts mit. 

Wenn ich jetzt an meine Einraumwohnung im ersten Jahr zurückdenke, dann standen in dem einen geräumigen Wohn- und Schlafzimmern nur das weiß lackierte Bett, meine Kommode für die Kleidung und zwei niedrige Bücherregale ohne Bücher, dafür mit einer mickrigen Plattensammlung ohne Plattenspieler. In der Küche hatte ich einen Schreibtisch aus Schulzeiten, noch die ein oder andere Pfanne und das geerbte Geschirr, das ich meiner Ex nicht überlassen wollte, geparkt. Durch den umbauten und zugemüllten Innenhof fiel sowohl in die Küche, als auch ins große Zimmer kaum Licht. Das Bad hatte erst gar kein Fenster nach außen, sondern lag von Küche und Wohnungsflur eingeklemmt. In dieser Wohnung konnte selbst ein Sommermittag wie ein Herbstabend daherkommen und die von mir mitgebrachte spärliche Einrichtung matchte perfekte mit dem armseligen Ort. 

Es mussten ein paar Wochen ins Land ziehen, bis ich und D. uns wiedersahen. Obwohl wir Wand an Wand lebten und ich sein Gebrüll, seine Wutausbrüche und sein aufgekratztes Gelächter jederzeit ungefiltert durch die Wände mitbekam, blieb er bis auf die erste Begegnung am Umzugstag mein unbekannter, leicht mysteriöser Nachbar. Der Frühsommer war verregnet gewesen. Die Bierbank vor meinem Fenster blieb bei dem miesen Berliner Wetter unbesetzt. Erst mit der Sonne sollten D. und auch die anderen Bewohner aus ihren Löchern gekrochen kommen und sich mir richtig vorstellen. Da war Georgi, krank und fett. In meinem ersten Sommer, seinem vorletzten, war er stets der Frühaufsteher, der in unserem Innenhof zuerst Platz nahm. Spätestens um zehn hockte sich Georgi so auf die Bank, dass er sowohl durch den Hausflur des Vorderhauses freien Blick auf die Eingangstür hatte, als auch direkt in mein Zimmer. Er war in der Regel auch der erste, der besoffen war. Man glaubte es kaum. Gegen halb elf kam er noch nüchtern die Treppe runter, stellte seine zwei Pilsator vor sich hin und war mit dem ersten Schluck sofort knülle. Zwei Flaschen zum Frühstück von jenem Bier, über das Ice-D‘s Bekannter Judo Andi oder Kickbox Andy (wie auch immer er heißen mochte) gerappt hatte und das Musikvideo vor meiner Wohnung gedreht, reichten Georgi aus, um unmittelbar hinüber zu sein und sich in die Hose zu machen. Da saß er eingenässt und keifte irgendwas Gehässiges gegen meine Wohnungswand. Manchmal auch verschlug es ihm die Sprache. Dann saß dieser Fettberg von fünfzig Jahren still und verloren dort wie ein Häufchen Elend. Diese Seite von Georgi bekam aber nur ich in den Blick durch das Fenster meiner Wohnung.  

Nach und nach tröpfelten die übrigen Verdächtigen ein und begrüßten sich, als wäre tags zuvor nichts geschehen. Wolfgang, der tatsächlich grau wie ein Wolf aussah. Matze, der ewige Rentier. Der ein oder andere Bekannte. Im schlimmsten Fall noch Wolfs Halbbruder. Oft auch Sabrina, von der ich anfangs dachte, sie könnte die Tochter von einem sein. Die erste Stunde verbrachte die Truppe recht wortkarg und gar gesittet. Mal ein müder Kommentar, auf das ein zustimmendes Gegrummel folgte. Noch vor zwölf Uhr kam Wolfgang auf die blöde Idee, einen Schnaps, Whiskey oder Bourbon herbeizuholen. Ab zwölf wurde der Ton zunehmend rauer und es war zu Ende mit der Ruhe. Sobald jeder sein erstes Glas intus hatte, erhoben sich die Stimmen. Bald schrien sie sich an. Gegen halb zwei eskalierte es völlig und sie zerstreuten sich vernünftigerweise, bevor es zu einer Schlägerei kam. Für einen Zaungast wie mich, der noch frisch und dem alles fremd war, lag die Komik darin, dass sich der Ablauf an jedem regenfreien Tag exakt so wiederholte. Gegen elf kam Georgi heruntergeeiert, trank sein Bier, nässte sich ein. Dann stieß Wolfgang dazu, Matze streckte den Kopf aus dem zweiten Stock und kündigte sich an. Ab und an brachte jemand einen Bekannten von der Straße mit. Ab dreiviertel zwölf holte Wolf seinen Bourbon aus seiner Abstellkammer, der eine halbe Stunde später gekippt war. Rasch wurde eine zweite Flasche eingefordert, die Wolf schon wankend hervorzauberte und die sie nur bis zur Hälfte schafften, weil ein Streit darüber ausbrach, wer für den Alkohol aufkam, und der die Gruppe noch vor zwei Uhr auseinandersprengte. Sollte es mal bis halb drei dauern, dann nur, weil irgendein unverbesserlicher Nachbar aus den umliegenden Wohnhäusern (aber niemals ich) die Bullen rief, die den Treff durch ihre Befragung und Strafandrohung in die Länge zogen. Wolf und die Bullen wären einen Exkurs wert. Bei diesen Stelldicheins meines ersten Sommers ist D. eher selten mit von der Partie gewesen, denn für ihn war das mittägliche Zusammenkommen zu früh angesetzt. Dabei hatte ich hinter meinem Fenster vor allem auf ihn gewartet. 

Es war kein Zufall gewesen, dass ich hier gelandet war. Noch vor fünf Jahren war in diesem Stadtviertel jeder zweite Innenhof mit so einer Gesellschaft besetzt gewesen. Heute mit Ice-D’s Tod fällt es mir auf, dass da inzwischen eine ganze Kultur untergegangen ist. Schon vor meinem Umzug war ich selber richtig unten angekommen. Ich hatte einen regelrechten Abstieg hingelegt, der mich zu D. geführt hatte. Nach meiner noch bravurös abgeschlossenen Ausbildung im Tourismus-Management und dem schnellen Aufstieg bei einem Online-Reisebüro lief irgendwie alles schief, was so schief gehen konnte. Ich habe gar keine Lust, davon zu erzählen. Eine Lebenssituation nach der anderen glitt mir aus den Händen. Ich war damals sehr gutgläubig, eben naiv. Ich meinte, mich auf andere verlassen zu können. Ja, mein Chef würde Verantwortung tragen. Ja, er versprach mir auch sehr vieles. Einen Dienstwagen zum Beispiel. Er stellte mir eine fette Provision in Aussicht. Wie viele andere Mitt-Zwanziger meiner Generation träumte ich davon, mit der Freundin alsbald eine Wohnung zu kaufen. Die Versprechungen meines damaligen Bosses machten mich gefügig. Für den Internetauftritt seiner Firma ließ ich mich in teurem Hemd und schniekem Jackett abfotografieren. Ich ließ mit meiner Person die Werbetrommel rühren. Ich war es auch, der die Drecksarbeit verrichtete und bei den Leuten anrief. Das erschien mir nur logisch, weil mein gewöhnlich deutscher Nachname bei den älteren Semestern sehr einfach Vertrauen erweckte. Dass unsere Rufnummer regelmäßig neu generiert wurde, wusste ich wirklich nicht. Hingegen, dass meine Stimmfrequenz vom System angepasst wurde, um in den Ohren meiner Gesprächspartner vertraut zu klingen. Das ergab für mich Sinn, wenn man übers Telefon teure Studienreisen verkaufen wollte. Naja, ausschließlich übers Telefon lief das Geschäft nicht. Aber eine erste Zusage benötigte ich aufgezeichnet, dass sich der Kunde bei Krieg, Epidemie und anderen kleineren, sogenannten Katastrophen mit einem Reiseersatz zufrieden gäbe. Mit dem Reiseersatz machten wir die fette Beute.

Ich galt in der Firma als Tausendsassa. Vor meinem depressiven Zusammenbruch hatte ich so viel Energie, mit der ich mich regelmäßig selber überraschte. Nicht, dass ich täglich zwölf Stunden geackert hätte. Ich war einfach nur schnell. Bei mir ging es zack-zack. Den Dienstwagen hatte ich bald. Bald wähnte ich mich ganz oben. Als ich sogar die entscheidenden Umbuchungen vornehmen durfte, erhielt ich anteilig an den Einsparungen die Provision. Ich rechnete mir aus, in zehn Jahren unsere Wohnung abbezahlt zu haben, die sich ein einfacher Angestellte sein Leben lang nicht leisten konnte. 

Als der Beschiss aufflog, war ich offen und ehrlich mehr überrascht von den Abgründen des Geschäftsgebarens unseres Chefs und seiner Online-Firma als die Staatsanwaltschaft. Ich denke, ich konnte das glaubhaft vermitteln. Es war wirklich eine harte Zeit. Kerstin, meine damalige Partnerin, der ich das Gelbe vom Ei versprochen hatte und die mitten in ihrem Medizinstudium feststeckte, hielt aufopferungsvoll zu mir, obwohl ich ihr nichts mehr zu bieten hatte. Unsere gemeinsame Erfahrung wäre eigentlich eine gute Grundlage für eine lebenslange Partnerschaft gewesen. Eigentlich. Denn wir hatten uns in den schweren Stunden der Gerichtsverhandlungen und der finanziellen Einschränkung immer wieder versprochen, stets ehrlich zueinander zu sein. Wir waren noch enger zusammengerückt. Sie wusste, dass ich im Herzen ein Guter war. Wenn auch einer, der sich leicht blenden ließ. Der sich blind an jemanden klammern konnte. Auf den man aufpassen musste. Kerstin versuchte es, wo sie nur konnte. Trotzdem ging es mit mir noch steiler bergab, sowie sie mir das Yoga beibrachte. 

Meditieren war so gar nicht meins. Entweder einer matratzenweichen Stimme unentwegt zuzuhören oder die eigene innere Stimme zu einem künstlichen Meeresrauschen ertragen zu müssen, dabei auch noch ruhig sitzen und unter totaler Selbstbeobachtung stehen, hielt ich nicht lange durch. Trotzdem und obwohl es mir viel zu esoterisch war, habe ich erst mal nicht gemeckert und mitgemacht. Kerstin beharrte darauf, dass ich gegen meine Niedergeschlagenheit etwas unternehmen müsse. Von einer Depression wollte ich damals nichts hören. Ich tat Kerstin den Gefallen. Als Kompromiss probierten wir es mit Yoga.

Ich kürze ab: Ich habe mich in die erst beste Yogalehrerin verknallt. Schlimm. Tragisch auch, weil ich sie nicht persönlich kannte, als es mich erwischte. Es war wirklich wie im Bilderbuch. Kerstin durchforstete Instagram nach der passenden Yoga-Lehrerin für Anfänger. Wir hatten in unserem Wohnzimmer den Couchtisch zur Seite geräumt und den Laptop so aufgebaut, dass wir beide gut folgen konnten und Kerstin mich korrigieren. Bei den ersten vier Yoga-Lehrerinnen sträubte ich mich noch. Als fünfte Kandidatin war uns Cosima angeboten worden. Cosima hatte damals noch kaum Follower. Bei ihr war nun alles anders. Cosima lebte im südbayrischen Garmisch, brachte ein bezaubernd rollendes R mit und bot in ihren Videos Berge zum Sattsehen. Natürlich hatte sie wie jede erfolgreiche Yogalehrerin die obligatorisch perfekte Figur, legte Wert auf einen cleanen Look und war überhaupt eine regelrechte Schönheit. Dabei waren es nicht diese Äußerlichkeiten, was mich umhaute. Sondern wie Cosima mit ihrer unnachahmlichen Präsenz erklärte und anleitete, das löste in mir etwas aus. Es mag sich im Nachhinein lustig-komisch anhören, aber jene Sitzungen auf dem Wohnzimmerteppich mit Kerstin an meiner Seite, die jeden meiner Schritte observierte und korrigierte, waren nur ganz schrecklich auszuhalten. Denn Kerstin wohnte leibhaftig bei, wie eine Dritte sich zwischen uns drängte und bemerkte davon rein gar nichts. Sie freute sich sehr, weil ich Gefallen am Yoga fand und es mir half. Bald schrieb ich Cosima. Erst unaufdringlich und formlos, wie toll mir ihre Videos gefielen und dass sie all meine Vorurteile ausgeräumte, die ich gegenüber Yoga, Pilates und anderer Gymnastik gehegt hatte. Wir pflegten einen regen und offenen Austausch. Später bin ich das ein oder andere Mal von Ulm nach Garmisch gefahren statt zu einem Vorstellungsgespräch, so dass Kerstin nichts spitzbekam. Zuhause lief es also noch normal ab – mal abgesehen davon, dass Kerstin und ich inzwischen mit gleicher Begeisterung ein gemeinsames Hobby pflegten, und ich zum wahren Yoga-Narr mutierte. Ich konnte gar nicht genug bekommen. Ich fing auch an, auf die Ernährungstipps zu achten, die hier und da in Cosimas Videos eingestreut waren. Ich begann nachzukochen, was sie aß. Gestaltete unser Wohnzimmer so um, dass es auch Cosima hätte gefallen können. Dann kippte etwas. Nachdem ich alles aus ihrem Kosmos lustvoll aufgesaugt hatte, begannen mich die neuen Posts von ihr zu irritieren. Jede neue Botschaft, die sie über die diversen Kanäle sendete, ließ mich nur verwirrter zurück. Inzwischen wusste sie genau, dass ich es ernst mit ihr meinte. 

Die Schwebesituation durch das anhaltende Gerichtsverfahren und durch die vergebliche Suche nach einem neuen Job muss mich aus der Bahn geworfen haben. Ich bat Cosima um Einzelunterricht. Obwohl sie ihn in einem Video angeboten hatte, erteilte sie ihn mir nicht. Ich hatte sie erst auf einen Kaffee mit Cashewmilch einladen wollen, später in ein veganes Restaurant in ihrer Nähe. Obwohl sie beides auf YouTube angepriesen hatte, lehnte sie ab. Obwohl es so gar nicht meinem Wesen entsprach, wurde ich aufdringlich. Nicht Cosimas Anleitungsvideos, sondern vor allem ihre halbprivaten Posts, auf denen ich nicht als Teil ihres Lebens zu entdecken war, machten mich nun ganz irre. Als ich einmal wieder vor Cosimas Tür auf Einlass wartete, nahm mich die Polizei in Empfang (zu meinem Glück hatte ich zu dem Zeitpunkt noch eine weiße Weste, leere Akte) und die Beamtin benannte den Sachverhalt eindeutig: Ich war zum Stalker geworden, ich sollte mich von der Dame fernhalten. So ohne ein Wort der Erklärung und des Abschieds von Cosima abgewiesen worden zu sein, tat sehr weh. Aber es stimmte. Ich hatte gestalkt. Ich war da irgendwie reingerutscht. Es tat mir auch aufrichtig leid. Ich schrieb Cosima, dass es falsch gewesen war. Keine Reaktion. Aber dass ich mich in unsere Yogalehrerin verliebt hatte, daran ließ sich nichts ändern. Es war mir unmöglich geworden, zuhause den Sonnengruß zu wiederholen, ohne dass mir die Tränen kamen. Ich gestand es Kerstin. Kerstin wollte es mir erst nicht recht glauben. Deshalb überließ ich ihr Cosimas Kontakt. Danach war es aus. 

Ich habe für alles geradegestanden. Ich habe die Bewährungsstrafe für meine Beteiligung am Betrugsfall akzeptiert und ich habe auch in Kauf genommen, meine Partnerin für ein schwachsinniges Liebesgefühl, das sich noch ewig dahinzog, verloren zu haben. Ulm, wo Kerstin und ich damals gelebt hatten, war danach verbrannte Erde. Deswegen bin ich nach Nordneukölln zu Ice-D und den anderen vom Leben Gezeichneten gezogen. Ich war völlig fertig. Was ich auch anfasste, wurde zu Scheiße. Meine neuen Nachbarn spürten intuitiv, dass der Zugereiste in ihre Endstation reinpasste. Ganz schnell war ich von ihnen aufgenommen und galt ungewollt gewollt als fester Bestandteil des Innenhofs. 

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In meinem neuen Zuhause hatte ich mich an vieles erst zu gewöhnen. Allem voran an den Hausrat, den Berg an Schrott, den ganzen Müll, der sich über Jahre aufgetürmt hatte und der den Innenhof wie meine Wohnung verdunkelte. Dann an die täglichen Saufgelage, die am späten Vormittag ihren Lauf nahmen und bis zum frühen Nachmittag reichten. An die nächtlichen Eskapaden, die je nach Sternenkonstellation mal wild, mal amüsant, mal erschütternd vonstatten gingen. An die fehlende Privatsphäre, weil die drei Fenster meiner Parterrewohnung allesamt auf den Hof zeigten und ich es nicht zustande brachte, Vorhänge zu besorgen. An meine Geldsorgen, weil unter solchen Umständen an Arbeit nicht zu denken war. Erst lebte ich vom Arbeitslosengeld und später von den Ersparnissen, die mir die Richterin gelassen hatte. Wer sollte mich mit meiner Vorgeschichte auch einstellen? Selbst die Frau von der Arbeitsagentur riet mir zu einem Coaching-Programm und dazu, es langsam angehen zu lassen. Sie ließ mich länger in Ruhe, als ich es für möglich geglaubt hatte. Mich weckte kein Alarmsignal, mich weckte der Lärm vor dem Fenster. Meist das Geschrei am Mittag. Oft aber auch Wolfgang, der vollmundig den Hauswart gab, aber nichts richtig zuwege brachte, und gegen sechs in der Früh die Mülltonnen an meinem Bett vorbeizog. Ich musste lernen, dass ich die Umstände nicht ändern konnte. Dann auch, mit der Sorge umzugehen, bei einem Streit unbeabsichtigt etwas abzubekommen, wenn ich zu unvorsichtig meinen Kopf aus dem Fenster streckte. Und auch, mit der Angst zu leben, unweigerlich wiedermal in irgendeine krumme Sache hineingezogen zu werden.

D. und mich verband, dass wir es waren, deren Wohnungen den Innenhof umschlossen. Er wohnte nach vorne raus zur Straße in einem ehemaligen Ladenlokal. Eines, wie sie in der Stadt üblich waren. Nach hinten zum Innenhof ging seine Küche ab und auch das Berliner Zimmer, das direkt an meine Wohnung angrenzte. Der ehemalige Verkaufsraum seiner Bude hatte über eine Bodenluke einen eigenen Kellerzugang zu bieten. Wer die Stiege hinabkletterte, stand in einem weit verzweigten Kellerareal, das D. sowohl als Werkstatt für Fahrräder diente, als auch als Schießstand, als Sammellager geleerter Wodka-Flaschen, die sich unter die Kellerdecke türmten, und auch als Versteck. Hier unten baute er in den nächtlichen Stunde seine Räder und seine Kartoffelkanonen. Letztere teste er sogleich dort aus. Vielleicht war es dieser Keller, der seiner Wohnung den Spitznamen verlieh. Alle sprachen nur vom „Bunker“. Bunker, als sei Ice-D‘s Wohnung ein berlinweit bekannter Club oder weil hier etwas gelagert wurde. Wolfgang war es, der mich in den sogenannten Bunker einführte. Gut einen sitzen nahm er mich in meinem zweiten Herbst, der so ein typisch mies-grauer gewesen war, an die Hand und zog mich durch die schwere Doppeltür. Sie führte in einen zugestellten, abgedunkelten Gang, ausgeleuchtet mit grünem Licht. Im ersten Moment dachte ich noch, es sei Wolfgang, der so streng roch. Doch es war der Bunker selbst. Zwar stank es im Bunker nicht wie in Wolfs Bude, die direkt darüber lag, so dass einem die Luft wegblieb. Eher roch es modrig wie nebenan bei mir, obwohl ich alles unternahm, den sonderbaren Mief der Vormieter aus den Wänden zu bekommen. Ich war richtig aufgeregt, als mich Wolf mitnahm. Endlich bekam ich ein konkretes Bild, wovon ich nur die Geräuschkulisse kannte. Endlich konnte ich dieses Habitat erkunden, in das D. immer so rasch verschwand. LED-Lichter sprangen zwischen Grün und Blau und färbte den kaum einsehbaren Wohnungsflur in eine kalte Tiefe. Klebriges Plastikefeu baumelte von der Decke. Eine Plastikpalme versperrte den Weg, unter der wir uns hindurchbückten. Am Kopf des Flurs war irgendwelches Zeug bis zur Decke gestapelt, was mich überhaupt nicht überraschte, weil es vor meinen Wohnungsfenstern ähnlich aussah. Aus dem anliegenden Zimmer hörten wir schon sein Gejaule. Dem folgte ein bissiges Lachen, das von Messer-Paula sein sollte. Eine Dritte war auch zu hören. Dann splitterte etwas. 

Warum Wolfgang mich in den Bunker mitgenommen hatte, ist mir inzwischen wieder eingefallen. Weil wir nach Werkzeug fragen wollten, um in meiner Bruchbude die Stauebene zu befestigen, die im Flur schräg herunterhing. Wieder splitterte Glas. Sowie wir um die Ecke gelangten, stand in der Mitte eines überladenen Wohnzimmer, dem ehemaligen Verkaufsraum, eine schwarze Ledercouch, um die Ice-D herumsprang und darauf hockte lässig jene Dritte im Bunde, die ich bisher im Hof nicht gesehen hatte: Lillet-Fee. Lillet-Fee hielt ein Gewehr im Anschlag. Vor ihnen stand in einem antiken Wandregal ein Dutzend geleerter Wodka-Flaschen parat und dazwischen zwei Teddys und ein halbes Dutzend Barbies drapiert zu einer Schießbude. Darunter ein Haufen Scherben. Messer-Paula, der ich zuvor mal Hallo gesagt hatte, grinste mir entgegen, hockte breitbeinig neben Lillet-Fee, zog an ihrem Jolly, trank Schnaps aus einem Plastikbecher, wie es auch D. tat. Sie meinte, zuerst an der Reihe zu sein, ehe Lillet-Fee mit dem Luftdruckgewehr, das die Bullen Ice-D bei einer nächsten Visite abnehmen sollten, drauflos schoss und einen Barbie-Kopf durch das Wohnzimmer knallte. Lillet-Fee poste mit dem Ding wie eine Jägerin und Ice-D kreischte wieder vor Freude. Vor Freude schmiss er sich mir regelrecht an den Hals. Er drückte mir einen lauten Schmatze auf die Backe. Er freute sich offensichtlich, mich bei sich zu haben. Mein herzensguter Nachbar D. hatte von Beginn an gerochen, dass ich sein Verbündeter war. Bei den Girls konnte ich mir weniger sicher sein. Lillet-Fee, die ich an diesem Nachmittag erst kennenlernte, zielte genüsslich mit dem Luftdruckgewehr auf mich. 

Es wäre glatt gelogen, nicht zu erwähnen, dass ich es mit der Angst bekam. Ich hatte wirklich Schiss. Falls der unzurechnungsfähigen Lillet-Fee ausversehen ein Schuss losgegangen wäre, und der dummerweise mich aus zwei Meter Entfernung getroffen hätte, wäre Schlimmeres passiert. Tatsächlich spritzten mir die Splitter der nächsten Wodka-Flasche entgegen, die Messer-Paula herunterholte. Wieder jaulte Ice-D auf. Wieder bekam ich eine seiner herzlichen Umarmungen ab und einen warmen Schmatzer auf die Wange obendrauf. Er nahm sich die Zeit und erklärte mir ausführlich die Spielregeln. Auf Barbies durfte nur zielen,  wer zuvor eine der Flaschen vom Regal geholt hatte. Anschließend jagte Messer-Paula allen fünf Barbies eine Kugel in den Kopf. 

„Wer ist die Bitch?!!“, wollte es Messer-Paula wissen.

„Keine knallt besser!“, kreischte Ice-D.

Vor Freude kippte er seinen halben Becher über mich und ging wie zur Entschuldigung vor mir auf die Knie. Aus seinem Becher ragte ein gefrorenes Bussy Bär-Wassereis. Ich fragte mich, ob sein Spitzname von dem Wassereis herrührte, das er wie eine Signatur als wiederverwendbaren Eiswürfelersatz benutzte. Oder ob es der Eis-Tee gewesen war, mit dem er von Zeit zu Zeit seinen Fusel verdünnte? Natürlich stand ich fasziniert vor ihm und bekam kaum ein vernünftiges Wort heraus, wie alle, die den Bunker zum ersten Mal betraten. Wolfgang genoss meine Erstarrung sichtlich und zog auch seinerseits seine Show ab. Er gab den Totalbesoffenen. Er kippte ohne Vorwarnung einfach um. Fürsorglich legten Ice-D und ich den schweren Brocken vom kalten, zugemüllten Boden aufs Bett, während Wolf sich etwas wehrte. Ice-D rannte in die Küche, brachte sich selber Schnaps mit und holte aus Wolfs Wohnung den Bourbon herbei, als der auf dem Bett liegend danach verlangte. Ice-D hatte ein großes Herz. Er brachte einem eine außergewöhnliche Gastfreundschaft entgegen, mit der ich vor dem Betreten des Bunkers nicht gerechnet hatte. Eine, die ihm später zum Verhängnis werden musste. Ice-D mixte allen Anwesenden einen Drink, den ich wohlwissend ablehnte. Das Mischverhältnis hätte ich eh nicht herunterbekommen. Außerdem erschien mir hier alles zu riskant und zu gefährlich zum Probieren. Viel lieber hätte ich an diesem Mittag mitgeschossen. Aber ich war zum Fragen zu schüchtern und von der ganzen Atmosphäre zu beeindruckt. Ganz ehrlich, am liebsten hätte ich mich zu den Girls aufs Sofa gesellt, das neben einem Fernseher, der unentwegt lief, stand und mich mit einem Drink in der linken Hand (Drogen gab es auch reichlich) und mit dem Gewehr im Anschlag in der rechten einfach gehen lassen. Es quoll diese Lust nun auch in mir, mich ohne Kompromisse diesem Ort zu überlassen. Auch mit dem Interieur zu verwachsen. In den Bunker abzutauchen und nie wieder auf. Ich ärgerte mich noch lange, dass ich es an jenem Nachmittag nicht geschafft hatte, unmittelbar ein fester Bestandteil davon zu werden. Stattdessen blieb ich noch lange einer der Zaungäste, für die die Performer um D. ihr Spektakel abzogen. Zumindest aber war ich einmal Publikum dieses Spektakels geworden, redete ich mir gut zu, als ich meine Wohnungstür hinter mir zuzog. Ein Besucher jenes Live-Acts, dessen Regie ganz klar Ice-D führte. Er war der Regisseur und Künstler, der hier zeichnete. Er hatte diese zwei herausragenden Mitspielerinnen gecastet. Er hatte dieses irre Bühnenbild, dessen Ästhetik keine Vorbilder kannte, über ein Jahrzehnt hinweg konzipiert und kreierte. Er erschuf diese Atmosphäre. Er war es, der die skurrilen Skulpturen gebastelt hatte, die dort überall ausgestellt waren. Der gesamte Bunker war eine einzige große soziale Plastik. Erst sehr viel später, als ich die Bagage um Ice-D und Messer-Paula in und auswendig kannte, nervte es mich, dass dieses Duo diabolo infernale quasi nach festem Drehbuch das immer gleiche Theaterstück abspielen mussten, sobald jemand Neues ihre immersive Installation namens Bunker betrat. Als müssten sie die einzig wahre Horror Picture Show abliefern. Als müsste der Bunker unbedingt einer Legende gerecht werden. Als sei alles nur dazu gemacht, sich möglichst tief in die Erinnerung Anderer einzugraben. Ich bin ehrlich, es schwang auch Eifersucht mit. Es kotzte mich regelrecht an, dass Ice-D noch Andere umgarnte, wenn ich im Raum anwesend war. Dass irgendwelche Neuankömmlinge, die noch nie zu unserer Innenhofwelt gehört hatten, ihm als Publikum beiwohnen durften und er um deren Faszination und Erschaudern buhlte. Wer nicht sofort flüchtete, der lernte wirklich die besten Kunststücke kennen. Eines war das Schießen mit den selbstgebauten Kanonen. Ice-D führte mich noch am selben Nachmittag untertage in seine Werkstatt ein. 

– – –

Das war’s. Nach meinem ersten Besuch lebten ich und D. weiterhin nebeneinander her. Durch die Wand, die unsere Wohnungen trennte, drangen die Exzesse von nebenan immerzu zu mir. Partys gab es dort drüben unentwegt, ganz egal zu welcher Uhrzeit. An Schlafen war oft nicht zu denken. Wiederum konnte es für Tage mucksmäuschenstill bleiben. Dann konnte ich mit einem Ohr an der Wand sogar das Tippeln der Mäuse im Mauerwerk vernehmen. Wenn ich in meinem zweiten Winter, die grauenhafteste Jahreszeit der Stadt, von der Straßenseite an seiner Wohnung vorüberkam, erhaschte ich durch die Scheiben, die mit Spiegelfolie zugeklebt waren, matte Schatten und das kreisende Spiel des Party-Lichts. Stand einmal die Ladentür zum Bunker einen Spalt offen und ich versuchte hereinzulugen, baute sich so gleich eine fremde Gestalt wie ein Türsteher vor mir auf. Offensichtlich hatte ich dort nichts verloren. Vielleicht weil man mir unterstellte, ich wäre ein Spitzel der Bullen, obwohl doch jedermann klar sein musste, dass ich nur der neue Nachbar von nebenan war. So sehr mich das Bunker-Fieber seit meinem ersten Besuch erfasst hatte, so wenig Mut brachte ich auf, mich ohne eine extra Einladung aufzudrängen. Ich hoffte vergebens darauf, dass Wolfgang mich ein zweites Mal an der Hand nahm. Ich erdachte zwar alle möglichen Vorwände, mit denen ich Wolf dazu bewegen konnte. Ich durchspielte zwar hunderte Möglichkeiten, anderweitig ein zweites Mal über die Schwelle zu gelangen. Aber ließ von allem ab. Ich spekulierte ernsthaft, dass D. keine Interesse an meiner Präsenz hätte. Zunehmend gewann ich den Eindruck, er ginge mir absichtlich aus dem Weg. 

Es stimmte mich traurig, dass ich über die gesamte nass-kalte Jahreszeit nicht an D. herankam. Dazu kam, dass ich außerhalb unseres Wohnhauses sowieso niemanden kannte. Ich verabredete mich nur selten über eine Plattform zu einem Date, weil es zu nichts führte und mich noch tiefer herunterzog. Die Wintertage sollten sich nicht mehr aufhellen. So sehnte ich mich regelrecht danach, dass der Alkoholiker-Treff mit den ersten warmen Sonnenstrahlen wieder vor meinem Fenstern stattfand und seine Schreikonzerte gab, dass Georgi morgens seine zwei Flaschen auf den Biertisch knallte und sich einnässte. Leider war meine zweiter Sommer Georgis letzter im Hof gewesen. Er sollte sich vom Sterbebett nicht mehr aufraffen. Wenn D. zwischen Kälte und Eisregen im Innenhof mal auftauchte, dann nur, um schnell irgendetwas hin oder herzuräumen. Quasi wie ein Autist konnte er seine unzähligen Projekte verfolgen, von denen aber keines je fertig wurde. Es lief so ab, dass er mit guter Laune auf den Hof trat und nach keinen fünf Minuten bereits angekratzt war. Meist hatte sich in den Wochen zwischen seine Auftritten im Freien bei seinen aufgetürmten Sachen, die meine Fenster verdunkelten etwas verändert. Entweder war etwas umgestellt worden oder ganz abhanden gekommen. Streckte ich dann zufällig meinen Kopf aus dem Fenster und sprach ihn im falschem Ton auf seine Laune an, donnerte augenblicklich sein Trinkbecher, ohne den er keinen Meter vor die Tür tat, samt Wodka mit giftrotem Kirschsirup und Bussie Bär-Wassereis gegen meine Hauswand. Mit dem lauten Knall und Gekeife legte er einen Abgang in seine Höhle hin. Selbstverständlich fragte ich mich, ob ich schuld daran sei, dass er so wütend wurde. Ob er es mir nachtrug, dass ich regelmäßig Schrott von ihm wegwarf, weil er meine Wohnung zustellte. Doch Hand an seine Sachen zu legen, war in diesen Monaten meine einzige Möglichkeit, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Andererseits kam es in der Folgezeit auch dazu, dass er überherzlich wurde, wenn wir uns im Hof über den Weg liefen. Ohne Vorwarnung konnte er mich überschwänglich in die Arme nehmen, drückte mir einen Schmatzer auf und plapperte wie ein Wasserfall drauf los. Er erzählte von seinen Projekten und ein wenig auch von seinen Sorgen. Dass er irgendetwas zuhause nicht fand oder dass ihn irgendwer wegen Geld stresste. Er öffnete sich mir. Das möchte ich an ihm von Beginn an am liebsten. Diesen Charakterzug, dass er sich in seiner ganzen Verletzlichkeit zeigen konnte, solange er nur besoffen war. Genauso unverstellt und plötzlich konnte seine Laune kippen. Abermals bekam wir uns in die Haare, weil er feststellte, dass ich seinen Sperrmüll angefasst oder etwas weggeworfen hatte. Für Wochen blieb er wie abgeschrieben, verschwunden, vom Bunker verschluckt. 

Alles änderte sich mit einem Schlag. Wo war ich unterwegs gewesen an jenem Abend im anbrechenden Frühling, der mir ein für alle Mal die Tür zu D. öffnen sollte? Es war ein  überraschend trockener, sonniger Frühling. Für ganze zwei Wochen. Es war bereits Morgen, wenn auch noch dunkel, als ich leicht einen sitzen der Haustür einen Tritt verpasste, weil wiedermal das Schloss im Gewinde durchdrehte. Ich wankte traurig-froh durch den Hausflur und zog die niedrige Tür zum Innenhof ebenso energisch auf. Aus dem Bunker nebenan wummerte der Bass. In Ice-D‘s Küche, deren Fenster auf den Hof zeigte, tummelten sich dunkle Gestalten, die ich bald kennenlernen sollte. Wenn ich bis dato etwas von meinem neuen Zuhause erlernt hatte, dann mich von nichts zu sehr beeindrucken oder einschüchtern zu lassen. Und vor allem dem Gegenüber niemals Angst zu zeigen, selbst wenn ich mir fast in die Hosen machte. Ich stand also in unserem Innenhof. Hier verlor sich niemand hin, der nicht lebensmüde war oder nicht einen von uns persönlich kannte. Es verloren sich nicht mal die normalen Nachbarn hierher, die es in unserem Wohnhaus natürlich auch gab. Da lebten ein kleingewachsener Langzeitarbeitsloser mit seiner krebskranken, nicht sterben wollenden Mutter, zwei Lesben mit ihrer achtjährigen Tochter, außerdem vom Markt abgehängte Berufskünstler und Musiker, Alleinerziehende, Arbeitslose, eine portugiesische fünfköpfige Familie in zwei Zimmer gedrängt und haufenweise Türken. Eine gute Mischung eben. Nur setzte sich von diesen Nachbarn keiner nachts in unseren Innenhof und niemals ließen sie dort eine Bekannte auf sich allein gestellt. Jeder wusste, was für ein Spektakel einem hier blühte. Eines, das auf Fremde furchteinflößend wirken musste. Das Spektakel hielt den Rest des Hauses und alle Außenstehenden auf Entfernung. Deswegen dachte ich an nichts Schlimmeres, wie ich aus der Tiefe der Nacht zu mir ins Bett wankte. 

Augenblicklich erschien mir das Monster, eineinhalb Meter hoch. Ich entdeckte noch keine Ping Pong. Aber als ich auch Ping Pongs Umrisse im Dunkeln wahrnahm, sackte mir das Herz in die Hose. Denn sie maß keine ein Meter fünfzig. Ihre Deutsche Dogge hatte mich da bereits fixiert. Die graue Dogge stand starr keine ganze Sekunden von mir entfernt. Zwischen uns lag nur das verwahrloste Blumenbeet, so ungefähr einen Sprung breit. Der Tierkörper mit kurzem Fell, ein Paket aus Muskeln, die Schnauze größer als mein Kopf, die Augen durch den Hof funkelnd, murrte. Ich vernahm das Zeichen. Es wurde zu einem Knurren. Das Knurren bahnte sich durch Wände und drängte den wummernden Bass zurück in den Bunker. Ping Pongs zweiten Köter, der selbstzufrieden zu den Füßen seiner hageren Begleitung lag, tauchte in meinem Blickfeld erst gar nicht auf, so fixiert war ich auf die Dogge, die sich auf die Vorderbeine stellte. Die Bestie wog definitiv mehr als jene mädchenhafte Erscheinung, die sie hier rein gebracht hatte und die sie zumindest zu beruhigen versuchte. Aber ihr beschwichtigendes Flüstern ließ die Dogge offensichtlich nur aggressiver werden. Ich sagte einfach gar nichts. Als könnte sie irgendetwas zurückhalten und ausrichten, umschlang Ping Pongs Umriss den Hals des Tieres. Ihre helle wie verrauchte Stimme, ihr schwarzes Haar, die erwachsenen asiatischen Augen, die auch gefährlich aussehen konnten, erzählten, dass sie keinesfalls so jung sein konnte, wie sie klein war. Tatsächlich war sie weit älter als zwanzig. Nur wie sollte mich ihre Volljährigkeit retten? Das Wichtigste war jetzt: Sie konnte die Dogge niemals halten. Ich stellte das Denken ein. Ich huschte auf Autopilot vorwärts. Ich drückte die Tür zum Seitenhaus hinter mir zu. Ich spurtete zur Wohnungstür. Bekam sie kaum auf, weil die zitternde Hand mit dem Schlüssel das Schlüsselloch nicht traf. Ich hatte Angst, die Bestie sprang mir durch das Glas der Seitenhaustür, um mir direkt an die Gurgel zu gehen. Ich hörte es knurren, bellen, dass das Fundament wackelte. Als ich in Sicherheit gelangt war, das Licht aber ausgeschaltet ließ, um niemanden aufzuschrecken, fragte ich mich, wieso alles in der Welt die Kleine sich dort draußen herumtrieb, zu wem sie gehörte und ob ich je wieder vor die Tür treten konnte. Am nächsten Morgen hockte die Dogge noch immer vor meinem Fenster. 

Wenige Tag später liefen ich und D. uns auf der Straße über den Weg. Das war etwas ganz Außergewöhnliches, denn in all der Zeit waren wir uns außerhalb unserer kleinen Welt nie begegnet. Vielleicht hatte ich ihn mal gesehen, wie er mit Sonnenbrille und Becher verschallert auf der Schwelle seiner Ladentür in den wenigen Sonnenstrahlen badete. Aber außerhalb seines angestammten Biotops hatte ich ihn mir nicht mal richtig vorstellen können. So sehr war er damit verwachsen. Ich hatte geglaubt, Schnaps, Kirschsaft und Lutscheis wuchsen bei ihm im Keller. Ich hatte angenommen, er nähme keine weitere Nahrung auf. Er sei gar kein herkömmlicher Mensch. Nun kam er mit vollem Rucksack und zwei Discounter-Tüten über die Kreuzung geeilt. D. berichtete mir, was für ein Spießrutenlauf einzukaufen für ihn wäre, weil er in allen umliegenden Supermärkten Hausverbot genoss. Es musste also unbemerkt zur Kasse gelangen, um an Essen zu kommen. Was an teuren Waren auf dem Weg von der Obsttheke bis zur Quengelware im Rucksack landete, bezahlte er weiterhin nicht. Nur das in den zwei Tüten. Wie er so erzählte, leuchtete mir auch ein, warum er sich zuhause so lange rummachte. Ich konnte ihn nämlich durchs Fenster beobachten, wie er mit der Hilfe von Messer-Paula seine Shoppingtouren vorbereiteten. Es gab ein ganzes Ritual an Vorbereitungen, das bis zu zwei Stunden dauern konnte. Viel zu lange, um es hier auszubreiten. Hektisch rannte er über den Innenhof, flitzte mehrmals in den Bunker und wurde zunehmend aggressiver, je näher die Diebestour rückte. Er zog ein groteskes Schauspiel an Verkettungen von Vorbereitungen ab, bis er von einem auf den anderen Moment verschwunden war. Sofort fragte ich ihn nach der Deutschen Dogge. Oder ob er was über deren Begleitung, die auf dem Hund hätte reiten können, wusste. D. zeigte sich ebenso überrascht wie ich. Zu ihm gehörten sie jedenfalls nicht. Jemand Anderes aus dem Haus musste sie bei uns abgestellt haben. Wer, das brachte D. rasch in Erfahrung. Ping Pong wohnte von nun an zur Untermiete bei Wolfgang. Samt beiden Kötern. Ohne dass ich es mitbekommen hatte, musste sein syrischer Untermieter ausgezogen sein. Wahrscheinlich hatte Wolfgangs Sauferei den netten, fleißigen Mitbewohner vom Studieren abgehalten. 

Es war mir ein Rätsel. Was trieb der Neuankömmling bei Wolfgang, der ein Berserker sein konnte? Sie musste das Loch doch, in das sie mit ihren zwei Hunden gezogen war, zuvor besichtigt haben. Wie konnte sie übersehen haben, dass es dort gesundheitsgefährdend war. Ich hielt es darin nicht länger als zehn Minuten aus. Denn Wolfgang lüftete aus Prinzip nicht, noch wusch er sich regelmäßig oder nahm mal einen Putzlappen in die Hand. Dafür rauchte er Kette gegen den Gestank. Überall war es keimig. Von irgendeinem Sozialdienst kam zum Monatsanfang eine Putzkraft, die auch nichts mehr ausrichten konnte. Spätestens nach einer halben Stunde Aufenthalt musste man um sein Leben fürchten. Wie also konnte es diese junge Frau darin aushalten. Oder nachts gar einschlafen? Dogge hin oder her. Woher nahm sie ihren Mut? War sie schlicht naiv? Wolf hatte Brutus, wie die Dogge hieß, rasch um den Finger gewickelt. Selbst die Bestie hatte es nicht vermocht, was nichts und niemand auf der Welt ändern konnte. Dass sich Wolfgang nicht volllaufen ließ, dass er streitsüchtig und ausfallend wurde, herumbrüllte, dass die Wände buchstäblich zitterten, dass man sich unterzuordnen hatte (und wenn es noch der Polizeibeamte war). Brutus lernte von Tag Eins, dass Wolf in der Hackordnung höhergestellt war. Brutus wurde gepackt, wenn er im Weg stand. Er wurde geschüttelt, ihm die Schnauze zugedrückt, einen Stoß verpasst. Als sich Brutus und Ping Pongs eigentlich friedlicher Dalmatiner Pongo, der ältere von beiden, in der neuen, beengten Umgebung in die Haare bekamen, ihr Revier auskämpften, schrecklich übereinander herfielen und sich blutig zurichteten, da warf sich Wolf ohne Furcht dazwischen. Er packte beide Hunde am Schlafittchen und trennte sie voneinander. Natürlich bekam auch er es ab. Seine Hand trug eine schlimme Bisswunde davon, die ihm Brutus eher ausversehen zugefügt hatte. Dafür bewahrte Wolf angst- und schmerzfrei, wie er war, die zwei Hunde davor, sich halbtot zu beißen. Das passierte in Woche Zwei. Ping Pong erhielt daraufhin die Auflage, einen der Hunde abzugeben. Bis dahin sollte Brutus bei D. untergebracht werden. Es tat mir um Pongo wirklich leid. Er wurde nach kurzer Abwägung an Wolfs Halbbruder wegegeben und traf es damit schlimmer als bei jeder Cruella de Vil.  Wahrscheinlich hatte Wolfgang schon vor der Keilerei D. Ping Pong vorgestellt und sie sich vorgenommen, ihre Untermiete eine Etage nach unten zu verlegen. Ping Pong bekam immer, was sie wollte. Sie war schon damals unfassbar kalkulierend gewesen, was man auf den ersten Blick ihr so nicht zugetraut hätte. 

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Letzte Woche habe ich Messer-Paula geschrieben, ob wir Kerzen zu seinem Todestag aufstellen wollen. Keine Antwort. Wo sind sie alle hin, die einst den Bunker bevölkerten, die dort ein und ausgingen, sich alles herausnahmen, die hier die beste Zeit ihres Lebens verbrachten und Teil von Ice-D’s Show sein durften? Wie vom Erdboden verschluckt sind sie. Auf Nimmerwiedersehen weitergezogen sind sie. Einfach nur traurig. Die einzige, die ich hier in Schutz nehme, ist Messer-Paula, die sich vor Schmerz zu Hause wegballert. Sie bekommt es emotional nicht hin, sich bei mir zu melden. Bei Ping Pong gehe ich davon aus, dass sie seinen Abgang gar nicht mitbekommen hat. Wahrscheinlich liegt Ping Pong im Moment an einem weißen Strand, lebt straight edge, experimentiert mit Sexspielchen, besucht eine Modenschau nach der anderen und macht Karriere bei Versace, Burberry oder sonst wo. 

Einmal noch nach ihrem Wegzug sind Ping Pong und ich uns begegnet. Ich war mit der U-Bahn auf gut Glück durch die halbe Stadt zum Ku’damm gefahren und hatte sie im Dolce & Gabbana-Store bei ihrer Mittagspause überrascht. Dass es ihr gelungen war, hier unterzukommen, war das letzte gewesen, was sie mir getextet hatte. Ich war nicht sehr verwundert gewesen, dass sie es dorthin geschafft hatte, denn Ping Pong bekam, was sie sich vornahm. Ping Pong und ich sind in die Pariser Straße zu einem überteuerten Italiener Salat essengegangen. Für mich gab’s Kaffee. Die Mittagssonne knallte unerträglich auf die Terrasse. Die Gäste um uns herum verschwanden hinter Marken-Sonnenbrillen und Ping Pong wurde von dem D&G-Emblem ihrer Brille regelrecht verschluckt. Ich konnte mir in ihren schwarzen Gläsern selber zusehen, wie ich dahinschmolz. Sie sah in ihrem Arbeitskostüm großartig aus. Mit 45 Kilo passte sie perfekt hinein und ihre selbstgestochenen Tattoos an den Händen kamen in Kontrast zu dem schicken Dress, den sie auf Arbeit zu tragen hatte, nur noch extravaganter zur Geltung. Ich probierte es mit einem Abschiedsgeschenk, mich mit ihr erneut zu verabreden, und packte zwei Konzertkarten aus. Ein Konzert mit Gitarrenmusik. Keine Chance. Sie hatte sich von mir entfremdet. Statt auf die Karten einzugehen, breitete sie nonchalante ihre Karrierepläne aus, während sie lässig in den Salatblättern rumstocherte, und wie sie vorhatte, dabei vorzugehen. Von einer Verkäuferin zur Store-Managerin, von Wilmersdorf nach Mailand, dann zu Gucci und immer so weiter. Im nächsten Moment zog sie über ihre neuen, angeblich auf den Kopf gefallenen Kolleginnen her. Ich durfte mir ausmalen, wie sie vor Anderen abwertend über mich sprach. Ich war ein bedeutungsloser, langweiliger und trauriger Typ, der seit seinem Niedergang nicht mehr in die Puschen kam und es noch nicht mal hinbrachte, so bedingungslos abgefuckt zu sein wie D. Über D. verlor sie kein schlechtes Wort, als wir auf ihn zu sprechen kamen. D. sei ein Unikat, das perfekt auf ein Heroin-Chic-Modeplakate passen würde. Wenn sie eine Plakatgestalterin wäre, schwärmte sie von seiner Erscheinung, dann…

„Es geht im Leben einzig und allein um Entschlossenheit.“, kommentierte sie.

D. sei ein Besonderer. D. habe aus seiner Person ein Kunstwerk gemacht. Kunst habe sie eigentlich nie interessiert, aber bei D. komme einfach alles aus seinem Innersten. D. sei immer er selbst. Ping Pong und ich hatten uns schon einiges zu erzählen, wenn wir ein gemeinsames Thema gefunden hatten. Ich konnte ihr vom Bunker berichten und, dass sie dort fehlte. Nur über uns zwei und unser Verhältnis zueinander verloren wir kein Wort mehr. Hätte ich mich aus dem Nichts bei ihr entschuldigen sollen? Hätte ich ihr gestehen sollen, dass ich sie benutzt hatte, sie meine Chance gewesen war, die ich beim Schopfe gepackt hatte? Auch die Konzertkarten, die ich ihr schenken wollte, wanderten zurück in meine Hosentasche, woher ich sie gezogen hatte.

Habe ich bereits erwähnt, dass ich damals völlig fertig war? Ich bin jeden Morgen aufgewacht und habe in mein Kissen geheult. Nichts konnte mir helfen, aus diesem jahrelangen Loch herauszusteigen. Yoga erinnerte mich nur daran, dass ich Cosima nicht näherkommen durfte, wenn ich meine Bewährungsstrafe nicht riskieren wollte, und meine Partnerschaft mit Kerstin selbstverschuldet zerstört hatte. Außerdem kamen mir die Bewegungsabläufe des Yogas inzwischen wieder so lächerlich vor, wie an jenem ersten Tag, als Kerstin mich zum ersten Mal zu Yoga-Übungen gedrängt hatte. Auch sonst fiel mir keine Ablenkung von meinem Jammertal ein. Selbst die Agentur für Arbeit hielt mich für arbeitsunfähig. Freunde fand ich draußen in der Millionenstadt keine. Wenn ich jemanden außerhalb des Innenhofs bei einem Date kennenlernte und im Gespräch war, beschlich mich augenblicklich der Eindruck, dass mir bei jedem Wort, das ich herausbrachte, nur Abneigung entgegenschlug. Alles, was ich einem Fremden von mir aufrichtig berichtete, machte mich gefühlt nur klein. Keiner meldete sich bei mir ein zweites Mal. Abends an einer Bar saß ich allein, während Grüppchen um mich herum die Party ihres Lebens feierten. Fürs Kino, wo es alleine auszuhalten war, war ich zu geizig. Ich war einsam und wusste rein gar nichts mit mir anzufangen. Weder tags, noch nachts. In der Nacht jedoch war es berechtigt, in Apathie auf dem Bett die Zimmerdecke anzustarren und dem Gekreische von nebenan zu lauschen.  

Über Ping Pong bin ich D. wirklich näher gekommen. Ping Pongs Präsenz in unserem Hof ermöglichte es mir endlich, ein zweites Mal die Schwelle zum Bunker zu überschreiten. Ziemlich bald, nachdem sie bei Wolfgang ausgezogen war und im Bunker ihre Zelte aufgeschlagen hatte, konnte auch ich mich dort auf der Couch niederlassen. Ich weiß die Nacht noch ganz genau. Das Küchenfenster zum Hof stand weit offen und Messer-Paula und Lillet-Fee grölten gerade etwas ins Freie, als ich von einem nächtlichen Spaziergang zurückkehrte. Ich grölte etwas schüchtern und gehemmt zurück und entdeckte durchs zweite Fenster im hinteren Zimmer zuerst Brutus, wie er auf dem Bett zwischen einer Handvoll aufgedrehter Leute schlummerte. Als nächstes erblickte ich am Vorhang vorbei Ping Pong. Ping Pong hockte auf dem Boden in Mitten der aufgedrehten Runde. In ihrer Hand summte eine Pistole, die sie in einen kleinen Farbbecher vor sich tauchte. Entweder Lillet-Fee oder Messer-Paula kam zu mir heraus, um nach dem Rechten zu sehen,  und zerrte mich in den Bunker hinein. 

In der Wohnung lag dieser unerklärliche Geruch, der mir schon beim ersten Besuch aufgestoßen war. Ich schlängelte mich an der Plastikpalme vorbei und unter dem Plastikefeu hindurch. In der Küche mixte sich ein Grüppchen Halbstarker etwas, denen ich im Sommer schon mal begegnet war, die ich aber nicht beim Namen kannte. Aus dem alten Verkaufsraum, der auf die Straße hinausging, drang irgendein selbstgemachter Rap. Im hinteren Berliner Zimmer winkte ich Ping Pong zu, doch sie grüßte mich nicht einmal, als ich ins Zimmer trat. Ich glaubte, sie warf sogar einen verächtlichen Blick in meine Richtung. Aufs Stechen konzentrierte sie sich aber auch nicht. Sie stieß sich die Farbe unter die Haut, als sei es völlig nebensächlich und alltäglich. Stattdessen quatschte sie wie eine Quasselstrippe (ich konnte nicht sagen, was sie genommen hatten) ohne Punkt und Komma. Sie prahlte in einer Tour mit einem Ausflug. Sogleich trat D. in die Runde. Er suchte wieder irgendwas und während er hin und herrannte, durchwühlte er sein Chaos nach einem anderen Aufsatz für die Tätowierpistole, die er selber gebastelt hatte, und nach einer Sprühschablone. Sowie D. wieder seine Aufmerksamkeit auf uns richtete, fiel er Ping Pong ins Wort. Er ergänzte ihre wilde Erzählung vom gemeinsamen Ausflug um die eigentlich wichtigen Details. Das war auch das erste Mal, dass ich ihren Spitznamen hörte – von da an hieß sie nur noch Ping Pong. Endlich hatte er auch mich in dem Gewusel entdeckt. Er umarmte mich überschwänglich, als sei es eine Selbstverständlichkeit, dass ich mich im Bunker aufhielt. Der offensichtlich heftig zugeballterte D. kreischte so laut, dass Brutus aufschreckte und verwundert den Kopf hob. Ich hatte an seiner Seite auf dem Bett Platz genommen und streichelt ihn brav, dass er nicht auf dumme Ideen kam und mich auffraß. 

Ich verstand bis hierhin nur soviel, dass D. und Ping Pong auf einer Bootsfahrt gewesen waren. Ich verbarg meinen Neid hinter Brutus in einem Kopfkissen. Das Kissen roch wie die gesamte Wohnung. Sie hatten am Mittag das Schlauchboot samt Motor zum Spreekanal getragen. Wahrscheinlich hatte der betrunkene D. schon auf dem Weg zum Wasser jeden Passanten überdreht vollgequatscht. Kaum war das Boot ins Wasser gelassen, hatte er von der Uferpromenade die zwei Meter hinunter einen Bauchplatscher vollführt und war vom Boot wie von einem Trampolin in den dreckigen, ekligen Spreekanal gehopst. Es muss Szenenapplaus gegeben haben, wie Ping Pong es beschrieb. Bis sie vom Kanal auf die eigentlichen Spree gelangt waren, hatten sie ein ganzes Dutzend Partyboote, die sich auf dem Weg zu einem Clubevent befanden, ins Schlepptau genommen. Wahrscheinlich war D. das eigentliche Highlight. Bestimmt übertönte er jede House-Musik. Irgendwann jedoch war die Batterie des Motors leergelaufen und sie trieben den Ausflugsdampfern hilflos vor den Bug. Messer-Paula oder Lillet-Fee sammelte sie mit dem Auto auf. Und so weiter, und so fort. Ping Pong quasselte in einer Tour. Nebenbei stach sie sich wahllos mit der Tätowierpistole. Bis zum Ende der Geschichte war ihr rechtes Bein von bunten Einstichen quer übersäht. Hier ein angefangenes Wort, dort kryptische Zeichen, die einer Komposition von Joaquin Torres Garcia entsprungen sein konnten. Ich hockte hinter Ping Pong auf dem Bett und war immer noch wütend auf sie. Kaum war sie vier Wochen in unserem Hof, durfte sie mit D. auf Tour. Sie war jung, eine gutaussehende Frau, naiv, leicht mit Drogen einzufangen, hemmungslos, frei von Bedenken. Sie brachte alles mit. Sie gehörte einfach dazu. 

D. jagte hin und her. Einerseits ließ ihn die Suche nach unbenutzten Tatowiernadeln nicht los, andererseits war er mit seinen Gedanken schon beim nächsten Abenteuer. Dafür brauchte es sein Bandana, eine Sturmmaske, die richtige Sprühdosen, die von langer Hand vorbereiteten Vorlagen, die er nicht fand, und den fertig gemixten Drink, abgefüllt und gut zugeschraubt. Ich wollte ihm wirklich zur Hand gehen. Aber er machte sich über mich nur lustig, weil ich in seinem Chaos niemals etwas finden würde. Zumindest durfte ich nach der Tüte mit Dosen und Aufsetzen wühlen. Irgendwo zwischen dem Sperrmüll, der sich auf den zwei Etagen von Parterre bis Keller angesammelt hatte, müsste die eine Tüte liegen. Systematisch startete ich im Keller unter den geleerten Wodka-Flaschen und in seiner Fahrradwerkstatt. Es war hoffnungslos. Ich kam kaum durch. 

Als D. und ich aufbrachen, nur er und ich, war es noch Nacht. Die anderen ließen wir bei der selbstgebastelten Tätowiermaschine und den Drogen. Was war ich glücklich! Zuerst probierten wir es, über unser Gebäudedach auf das Dach zwei Nachhäuser weiter zu gelangen, scheiterten aber schon an der verschlossenen Dachstuhlluke. D. hatte den nachgemachten Schlüssel vergessen. Ihn jetzt zu suchen, ergab keinen Sinn. Bei heftigem Regen über die Dächer zu klettern, hielt ich eh für eine gefährliche Idee. Auf der Straße war mir wohler. Auf der Straße waren zu jener Stunde nur noch einzelne, verstreute Party-People unterwegs und die üblichen armseligen Junkies, die zwischen den Pflastersteinen nach Crack, Meth, Fentanil oder sonst so einem Zeug suchten (von dem ich nur die Bezeichnungen kannte). Sie suchten die Ecken dort ab, wo sich kurz zuvor ihre Dealer aufgehalten hatte, in der Hoffnung, etwas sei versehentlich heruntergefallen oder es würde sich ihnen gar der versteckte Schatz auftun. Vor unserem Haus schabten gerade zwei Gestalten die Rillen zwischen den Stolpersteinen aus, als wir vor die Tür traten. Es waren wirklich wandelnde Leichen, die da auf dem Boden krochen und im Dreck buddelten. 

Es war das zweite Mal überhaupt, dass ich D. außerhalb des Bunkers beobachtete. D. war immer noch derselben, wenngleich die Außenwelt als Bühne wie eine Nummer zu groß wirkte. Neben dem ewig gehetzten Hin und Herjagen offenbarte sich unter freiem Himmel viel stärker seine traurige und kranke Seite. Während wir von Hauswand zu Hauswand eilten, um die eine perfekte, möglich frisch gestrichene, kahle Wand ausfindig zu machen, berichtete er so nebenher, aber ganz aufrichtig von seiner Alkoholsucht. 

 „Du musst dir vorstellen“, verfiel D. in einen mitleiderregenden Ton, „du hast eine Grippe. Du wirst gefoltert bis auf die Knochen, hast unerträgliche Kopfschmerzen und Husten. Du hustest, bist du würgst. Du würgst so stark, dass du dich übergibst. Du weißt, die schnellste Medizin ist ein volles Glas. Ein Glas abkippen und nach einer Minute bist du ein neuer Mensch, kuriert von allen Schmerzen. Wer würde da nicht zugreifen?!“, wedelte er mit seinem Drink vor meinem Gesicht herum und öffnete ihn. 

So wie wir fündig wurden, packte er Dosen und Schablone aus und hatte im Nullkommanichts die ganze Wand beschmiert. Ziel war es, drei Buchstaben ineinander zu verschränken, so dass sie sich zu einem Bild fügten. Aber er war mit seiner Arbeit absolut unzufrieden und, sie zu retten, gelang ihm nicht. Er schmiss sein Materialien über den Gehweg. Er sprang schnaufend umher. Er konnte so schnell frustriert sein. An einer nächsten unversehrten Mauer trat ein greiser Bewohner auf wackligen Beinen unvorhersehbar aus dem Haus und drohte uns mit der Polizei. Mir wurde es zu viel. Ich hatte alles bekommen, was ich wollte. Ich fiel seit einer Ewigkeit mal wieder zufrieden und hoffnungsvoll ins Bett und durfte sofort einschlafen. Ich hatte das Gefühl verspürt, dass etwas in Ordnung gebracht war, dass ich meinen Platz zugewiesen bekommen hatte. Es fühlte sich an wie das High beim Erstkontaktes mit einer Droge, wenn man vom Turn völlig überwältigt ist und sich erhaben in falscher Sicherheit wiegt. D. und ich hatten gleich in der Nacht einen Deal ausgehandelt. Ich hatte ihm versprochen, dass er ein paar Räder aus seinem Keller in meinem unterstellen durfte, bis er bei sich mehr Platz geschaffen hätte. Denn Fahrräder Schrauben war neben den selbstgebauten Kanonen seine zweite große Leidenschaft. 

Am nächsten Morgen war die Aufregung groß, als ich wegen der Räder bei ihm klopfte. Ping Pong öffnete mir. Irgendwer hatte D. am frühen Morgen auf dem Heimweg aufgelauert und einen Streit provoziert. Es muss eine Gruppe von vier, fünf miesen Typen aus dem Kiez gewesen sein. Man hatte ihn bei einer Messerattacke heftig am Oberschenkel verletzt. Er hatte Schweineglück gehabt, dass die Arterie nicht durchschnitten war. Anstatt ins Krankhaus zu fahren (was D. ums Verrecken nicht wollte), sorgte Ping Pong aufopfernd um ihn. Was er jetzt brauchte, war Ruhe.

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Nach einer unbestimmten Zeit Funkstille, vielleicht waren es Tage, vielleicht Wochen, klopfte es, irgendwann nachts natürlich, an meinem Fenster und sie, Ping Pong tauchte aus der Dunkelheit auf. Ich bekam einen kleinen Schrecken, weil sie bloß in Jeans und dünnem Shirt vor mir in der Kälte stand. Der Nieselregen tropfte auf ihre hohe Stirn und an ihren nackten Armen herab. Brutus, der eine Pfote auf der Fensterbank ablegte, machte sich nichts aus dem Wetter, sondern blickte neugierig an mir vorbei. Da war nichts Besonderes zu sehen, außer ein ungemachtes Bett und eine Plattensammlung ohne Plattenspieler. Ich hatte wachgelegen wie immer, weil ich nachts nur selten schlafen konnte. Entweder war die Party aus D.‘s Bude zu laut oder mein eigenes Kopfkino zeigte einen fiesen Thriller in Endlosschleife. Ping Pong kletterte durch das offene Fenster. Ich half ihr und öffnete auch der jaulenden Dogge die Wohnungstür. Bevor ich Ping Pong fragen konnte, was sie zu mir führte, legte sie sich ungefragt in mein aufgewärmtes Bett, von wo aus ich soeben noch die Zimmerdecke angestarrt hatte. An jenem Abend hat mich Ping Pong vor einer meiner dunkelsten Stunden gerettet, in der ich nichts mehr mit mir anzufangen wusste, in der ich mich insgeheim gehasst hatte, in der mir nichts mehr teuer gewesen war. Niemand war da, mit dem ich meine Konflikte teilen konnte oder der meinem Leben hätte Bedeutung geben können. Die Tage glichen einer sinnlosen Zeitverschwendung, in der es kein Vor und kein Zurück gab. Sie verstrichen sinnlos und ich war froh, sobald die Nacht hereinbrach, die berechtigte, in Apathie auf der Matratze zu vegetieren. Jetzt meinte ich, in Ping Pong, die pudelnass in meinem Bett schlotterte, eine Schicksalsgenossin gefunden zu haben. Bis dahin hatte ich kaum mehr von ihr gekannt als den Spitznamen, den D. ihr aufgedrückt hatte. Erwartungsvoll klemmte ich in die zwei Zimmerfenster zum Innenhof saubere Bettlaken als Sichtschutz. Es sollte niemand mitbekommen, dass sie bei mir ins Bett kroch. 

Tatsächlich war auch Ping Pong eine Verlorene, Gestrandete, Gefangene. Ich brachte ihr ein Handtuch. Mit abgetrocknetem Haar konnte sie wieder so tun, als sei es das Normalste von der Welt, bei mir aufzutauchen und ohne Hose unter meine Bettdecke zu krabbeln. Ich setzte mich zuerst zu ihr auf den Boden und verhörte sie ein wenig. Es wäre schwierig auf der anderen Seite der Wand. Sie bekomme keinen Raum zum Durchatmen, winkte sie ab. Als sie die Decke anhob, schreckte ich nur deshalb auf, weil sie sich in der kurzen Zeit seit ihrer Ankunft äußerlich sehr verändert hatte. Oder sollte ich sagen, ich erschrak darüber, was D. mit ihr angerichtet hatte. Sie kam mir zwar abgebrühter vor als in den ersten Tagen bei Wolfgang. Auch hatte sie Gewicht verloren und sich in Kürze einen eigenwilligen Kleidungsstil aus rosenbesticktem Kopftuch und Puma-Jogginghose zugelegt, mit dem sie jetzt eher einer Zigeunerin als einer Internatsschülern glich. Aber ihre Haut an den Beinen war komplett übersäht mit schrecklich roten, grünen oder blauen Einstichen, die als Kompositionen wohl irgendetwas aussagen sollten. Ich fragte Ping Pong nach dem ein oder anderen Zeichen. Doch sie faselte nur etwas von Rauscherfahrungen. Mein Körper schüttelte sich, als wäre sie eine Kranke oder zumindest schmutzig und ich dürfte sie nicht berühren. Ich fragte sie weiter aus, denn auch mich zog irgendetwas nach nebenan, wenn ich auch nicht sagen konnte, was oder warum. Ping Pong so nah bei mir zu haben, fühlte sich an, wie nebenan bei ihm zu sein. Es fühlte sich verboten an, es fühlte sich gefährlich an. Ping Pong war mein Zugang. Sie bildete die Brücke. Durch sie stieß ich ungeschützt tief in ein Leben vor, das niemals meins war. Von dem ich trotzdem ein Teil sein wollte. Ein Leben, von dem sie sich bei mir zu regenerieren suchte. Eines, in dem ich mich verlieren konnte. Später erzählte mir Ping Pong auch von sich. Vom Internat in einem Wald, in dem sie richtig gut zu singen und zu löten gelernt hatte. Dass sie sonst die meiste Zeit in Düsseldorf bei der Oma groß geworden war und ab und an ihre Mutter besuchte, die in Hamburg irgendein mittelständiges Geschäft führte. Ihr biologischer Vater lebte wieder in China. Dass sie mal eine Musterschülerin gewesen war. Eine Klasse übersprungen hatte. Später aber… usw. Ich konnte ihr in der ersten Nacht kaum noch zuhören. Ich wollte vielmehr wissen, wer D. zugerichtet hatte. Die Stichwunde hatte wohl übel ausgesehen. In den Tagen nach der Tat wäre es im Bunker das bestimmende Thema gewesen, aus welcher Szene die Täter kamen. Ping Pong berichtete unter der Decke splitterfasernackt, dass sie, die zu sechs gewesen waren, den Streit provoziert hätte, dass sie D. womöglich aufgesucht hätten, dass es möglicherweise um eine Sache ging, die schon lange schwelte. Aber sie, Ping Pong, würde aus den Bruchstücken, die sie aufschnappte, nicht schlau. Auf die Idee, die Polizei einzuschalten, kam offensichtlich niemand. Auf jeden Fall könnte ich froh sein, nicht mit von der Partie gewesen zu sein.

Tags darauf, nachdem sie zum ersten Mal bei mir übernachtet hatte, trug ich mit D. Fahrradrahmen, Felgen, Bremsen, Schaltungen, kistenweise Schläuche und Mäntel in meinen bis dahin leeren Kellerverschlag. Ich lernte den Bunkerkeller nochmals besser kennen, entdeckte eine gewissen Ordnung in den Dingen, die auf den ersten Blick ein Chaos an Schrott gewesen waren. Ich erkannte, ein Berg gehörte ausschließlich den geleerten Wodka-Flaschen und ein anderer dem Plastik-Pfand, einer für Radschrott, der nächste Abflussrohren für Kanonen… In einem hinteren Raum führte ein Seitengang zu meiner Überraschung wiederum zu einer Tür hinaus in das übrige Kellergewölbe des Gebäudes, in dem sich schließlich die Abstellkammern der Mieterschaft befanden. D. hatte also noch einen dritten Zugang zum Bunker. Er verriet mir, dass er ihn nur nutzte, wenn er seinen Schlüssel in der Wohnung vergessen hatte. Das machte es ungemein unkompliziert. Zwei seiner Kumpels halfen mit, Ersatzteile von seiner Radwerkstatt aus seinem Keller in meinen kleinen, bis dahin leeren Verschlag zu räumen. In keiner halben Stunde war der unter die Decke gefüllt. Wir schlossen ihn ab. Jeder bekam einen Schlüssel.

Ping Pong mochte es bei mir. Sie kam jetzt mit einer Regelmäßigkeit herüber. Inzwischen sogar ohne Brutus, um länger bleiben zu können. Denn die Dogge konnte im falschen Moment loslegen, nach einem Spaziergang zu betteln. Ungefragt sprang er zu uns aufs Bett und quengelte, bis er bekam, nach was er verlangte. Meine Angst vor ihm war notgedrungen erst einem natürlichen Respekt vor seiner bestialischen Größe und dann einer liebevollen Freundschaft gewichen. Ich hatte ihn inzwischen als tollpatschigen, verschmusten und vor allem treuherzigen Hund kennengelernt, der meine Person sichtlich mochte. Sicherlich auch, weil er bei mir seinen Willen ohne Weiteres durchsetzen konnte. Ping Pong suchte bei mir die Ruhe sowohl von D., als auch von Brutus und konnte sich fortschleichen, ohne dass es die beiden Kerle bemerkten. Wenn sie nach den harten Tagen des Exzesses oder nach heftigen Auseinandersetzungen mit D., die sich häuften, nicht mehr konnte, klopfte es wieder an meiner Tür. Für eine Nacht wollte sie einfach alles hinter sich lassen. Sie hatte nicht einmal Lust zu erzählen, was drüben vor sich ging. Ich musste es ihr regelrecht aus der Nase ziehen. Mein bewährter Trick war es, sie zu streicheln. Ich fuhr ihre Haut entlang der Einstiche ab.  Zu jedem neuen sogenannten Tattoo gehörte ein Erlebnis, das mit ihm verbunden war. Je weiter ich an ihrem schmächtigen Körper vordrang, desto offensichtlicher wurde die Eindimensionalität ihres gemeinsamen Lebens. Es war eines ohne Tages- und Nachtzeit. Eines der letzten Notwendigkeit. Die Sucht strukturierten einfach alles. Ich bekam es bei ihren Berichten mit der Angst und warnte Ping Pong davor, unwiderruflich in etwas hineingezogen zu werden. Wie bei mir so konnte ich auch bei Ping Pong beobachten, wie sie in seinen Bann gezogen wurde und in wenigen Monaten von ihm verschlungen. Noch glichen ihre Berichte einer endlosen Party, aber bald würde bei ihr die Abhängigkeit die Feierlaune abgelöst haben. Noch steckte ihr junger Körper die chemischen Zurichtungen weg, aber bald würde er, ohne Unterlass verlangen, zittern und schreien. Aber Ping Pong wollte mir keinen Glauben schenken. Jung und naiv wie sie war, meinte sie, alles im Griff zu haben. 

Bevor sie mit mir schlief, zog sie ein Pulver, von dem sie erklärte, es hieße Keta. Kaum erwähnenswert, dass sie mir in der ersten Nacht etwas davon anbot. Dankend hatte ich abgelehnt. Ich spürte von solchen Substanzen kaum etwas. Wenn doch, musste ich mich direkt übergeben. Das war mein Glück. Vor allem aber wollte ich Ping Pong ein gutes Beispiel geben. Von ihr lernte ich, dass jenes Keta das Schmerzempfinden abstellte. Ping Pong stellte Sachen an, denen sich ihr Körper sonst wohl verweigert hätte. Auch mich wies sie an, Bestimmtes zu tun, zu was ich nicht in der Lage gewesen wäre, hätte ich nicht persönlich mitangesehen, dass das Pulver vollständig in ihrer Nase verschwand. Ich sagte mir, Augen zu und durch. So wie die Vernunft wieder einsetze, war es eh zu spät gewesen, aufzupassen. Tatsächlich war die latente Gefahr, von D. ertappt zu werden, viel präsenter als jede noch so berechtigte Sorge vor Krankheiten, die ich mir bei Ping Pong einfangen konnte. 

Was würde D. tun, wenn er herausbekäme, dass Ping Pong in meinem Bett Zuflucht suchte und ich mich von ihr hatte mitreißen lassen? Würde er mir Glauben schenken, dass ich nur seinetwegen mit ihr im Bett gelandet war? Vielleicht wäre es ihm piep egal, was sie außerhalb des Bunkers trieb, wie Ping Pong beschwichtigte. Ob er sich wirklich keine Gedanken machte, wohin sie ging? Ob er tatsächlich nicht einmal bemerkte, dass sie weg war? Ich hielt es für wahrscheinlicher, dass er mich an die Wand stellen würden und mit einer seiner dicksten Kanonen abknallen, so wie er mit Messer-Paula auf dem Sofa lag und darauf wartete, dass eine Maus vors Visier lief. Wenn Brutus bei uns döste, beschlich mich sogar der Verdacht, der Hund könnte sich bei D. verquatschen und uns verraten. In unseren gemeinsamen Nächten gab es in jeglicher Hinsicht kein Zurück mehr. Es war sicherlich das einzige Mal, dass mich meine Ängste zu einem besseren Liebhaber machten. 

Ich streichelte Ping Pong viel. Ich verhörte sie. Hin und wieder war sie geständig. Sie litt an einem Helfersyndrom. Sie biss sich an dem hoffnungslosen Unterfangen fest, D.‘s Leben umzukrempeln. Ich hielt es erst für einen Witz. Aber ihr erklärtes Ziel war es gar, D. von den Drogen loszukommen. 

„Anstrengend ist es, wenn ich ehrlich bin.“,  plauderte sie aus dem Nähkästchen. „Ich hab‘ nur versucht, ihm beim Aufzuräumen zu unterstützen.“, als er ein Wodka-Glas knapp an ihr vorbei gegen die Wand donnerte, weil er es nicht übers Herz brachte, sich von vier Bergen Fahrrad-Schrott aus dem Keller zu trennen. Dann hat sie es sein lassen, mit ihm zusammen das Abenteuer Ausmisten zu unternehmen. Sie hat es furchtlos selber in die Hand genommen und auf eigene Faust Tabularasa gemacht. So wie ich mit seinen Sachen vor meinen Fenstern. Ich müsste mir das Ergebnis im Bunker unbedingt anschauen. In der Küche hatte sie wohl tagelang geputzt, Fließen angeklebt, die Regale in die Wandschränke eingesetzt, den Kühlschrank entschimmelt, vier Mülltüten vergammelten Essens, eingetrocknetes Besteck und Geschirr vor meine Wohnung zu den Mülltonnen geparkt, weil das Einweichen nichts mehr half, und auch Fallen für Motten und für Mäuse aufgestellt. Letzteres begrüßte ich besonders. Das Tapsen und Nagen der Mäuse konnte ich in unseren Wänden hören, wenn es sonst leise genug zum Einschlafen war. Ping Pong hatte sich sogar dem Bad angenommen. 

„Ich weiß nicht, ob ich von diesen Händen noch berührt werden will.“, scherzte ich. Denn erst wollte ich ihr nicht glauben, dass sie den Mut aufgebracht hatte, auch noch seine Toilette zu reinigen.

„Ich habe mich geekelt, im Stehen zu pinkeln.“, begründete sie, was keine Begründung brauchte. Sie hat eine volle Flasche WC-Reiniger verbraucht und bekam das Klo trotzdem nicht mehr weiß. Den Sprung in der Schüssel verklebte sie auch, so dass das Spülwasser nicht weiter herauströpfelte und sich seinen Weg durch das Bad bahnte. In den Flur hatten sie einen Schrank hineingebaut. Sogar seine Wäsche brachte sie jetzt weg. Ich fragte Ping Pong, ob sie und D. sogar miteinander schliefen. Konnte ich ihrer Antwort Glauben schenken? „Hast du schon mal Scheiße…?“, forderte sie mich heraus. Allein die Vorstellung ekelte mich. 

Ich liebte die geschlossene Welt. Sie wurde in diesen wenigen Wochen mit Ping Pong noch geschlossener. Weder eine Demonstration, noch ein Karneval der Kulturen oder sonst irgendwelche Straßenfeste, die das Viertel anscheinend so attraktiv machten, war für uns von Bedeutung. Was vor der Haustür vor sich ging, ging völlig an uns vorbei. Ich verbrauchte immer mehr Zeit zuhause, weil ich in den folgenden Wochen ständig krank wurde. Ping Pong kochte Tee für mich und brachte gelegentlich Hühnersuppe vom Chinesen. Ich versuchte meine körperliche Schwäche als kleine Erkältung abzutun. Ich wollte nicht, dass sie bemerkte, wie übel es mir unentwegt ging. Ich wollte, dass sie sich zu mir ins Bett legte und da blieb. Aber ich spürte, dass sie sich inzwischen bei mir langweilte. Trotz meiner körperlichen Erschöpfung schlug ich die ein oder andere Unternehmung vor. Für die Idee mit Yoga lachte sie mich aus. Wir gingen ins Kino, wo sie bei der Hälfte des Films auf der Toilette verschwand und das Ende an der Bar abwartete. Wir spielten Tischtennis bei Nacht und konnten den Ball im schwachen Licht der Straßenbeleuchtung nicht wirklich sehen. Ich war auf jeden Fall nicht aufregend genug. In jenen Tagen fing sie dann an, von einer Mode-Karriere zu reden und dass sie aus diesem Hof raus müsste. Oder kam sie damit erst nach dem Polizeieinsatz an? 

Es war doch klar, dass es, sobald es richtig schön wurde, einmal zu Ende gehen musste. Soeben war ich mit Ping Pong neben mir an einem nächsten Morgen aufgewacht. Ping Pong räkelte sich aus dem Schlaf und fummelte herum. Sie machte keine Anstalten, das Bett nach nebenan zu verlassen. Sobald wir Brutus‘ Gejaule hören sollten, weil D. es mal wieder nicht gebacken bekam, ihn vor die Tür zu lassen, wäre ich in meinen vier Wände wieder allein. Statt einem Gejaule, knallte es nebenan. Wie setzten uns auf und spitzten die Ohren. Mein Blick schweifte durchs Zimmer und mir fiel auf, dass sich seit dem Einzug kaum etwas verändert hatte. Meine Wohnung wirkte temporär. Ein dumpfer Stoß wiederholte sich. Dann drang heftiges Geschrei herüber. Jemand klagte lauthals. Es hörte sich gar nicht gut an. Wir sprangen aus dem Bett und ich lugte hinter den Bettlacken hervor, die im Fenster eingeklemmt waren. Im Innenhof, dort, wo sonst die Nachbarschaft bei Schnaps saß, erspähte ich einen ungefähr Vierzigjährigen in kugelsicherer Weste mit Pistole im Anschlag. Er lauerte vor D.‘s Küchenfenster. Vorsichtig holte ich Ping Pong vom Laken weg. Unsere Neugier schlug in Sorge um Brutus um, denn wir hatten kein Gebell vernommen. Ping Pong wurde panisch. Sie wollte Brutus unbedingt und sofort aus dem Bunker holen, obwohl das Haus wie umstellt aussah. Sie hatte berechtigte Angst, dass der erste Knall der Dogge gegolten hatte. Also ließ ich mich dazu breitschlagen, auf unbeteiligten Nachbar zu machen und hinauszutreten. Ich schlupfte erst mal in meinen Schlafanzug hinein. Zu dem Mann in Zivil hatte sich inzwischen ein weiterer in Polizeiuniform, dessen Gesicht sich unter einer Sturmhaube verbarg, gesellt, meldete Ping Pong in Lauerstellung. Sie gab mir den ein oder andere Tipp mit auf den Weg. Die Sache wäre klar. Es interessiere mich als Nachbar, was in meinem Haus um diese frühe Uhrzeit Wildes vor sich ginge, wollte schlicht nur nach dem Rechten sehen und ob ich gegebenenfalls die Polizei rufen müsste. Ich zog mir den Bademantel über und stapfte hinaus, als die zwei Männer in den vorderen Hausflur verschwunden waren. Der Flur des Vorderhauses aber war vollgestopft von Bullen unter Sturmhauben. Zehn Mann bestimmt. Einer mit schwerem Rammbock. Bis dahin hatte ich noch kein SEK aus nächster Nähe erlebt. Kaum hatte ich eine Frage an einen der vermummten Männer gerichtet, stand ich auch schon auf der Straße an die Hauswand gedrückt. Dort blieb ich geparkt, weiterhin in Pyjama, für einige Minuten, während einer ohne Sturmmaske und in Zivil meine Personalien checkte und Passanten auf der anderen Seite vorüber gingen und glotzten. Vier in Schwarz gepolsterte Polizisten, von denen ich nur starrende Augen wahrnehmen konnte und die allesamt einen Kopf größer waren als ich, waren um mich herum aufgebaut und ließen mich in meinem Schlafanzug und Bademantel nur noch suspekter erscheinen. Ein Entwischen war praktisch unmöglich. Bis ihr Kollege in Zivil aus dem Bus der Einsatzleitung stieg, war mir wieder eingefallen, was ich zuvor ganz vergessen hatte: Dass ich auf Bewährungsstrafe war. Ich wurde in den Wagen gebeten. Dort hockte ich an einem ausgeklappten Tischchen, umgeben von Polizisten und behauptete alle möglichen Halbwahrheiten, um glimpflich aus der Sache herauszukommen. Meinen Nachbar kannte ich plötzlich nur noch vom Sehen. Was bei ihm abging nur vom durch die Wände Hören. Dass sie meinen Kellerverschlag nicht überprüften, war mein großes Glück (wie ich am Tag nach D.‘s Tod erfuhr, als sein Kumpel um Einlass bat, um die ein oder andere Tüte herauszuholen). An als das hatte ich wirklich gar nicht gedacht. Nur an Brutus und Ping Pong, die hoffentlich nicht in D.‘s Angelegenheiten hineingezogen wurden. 

Ping Pong sollte ihre Zukunft bekommen. Aber Brutus trugen sie in einem Sack aus der Wohnung. Auch Ice-D nahmen sie mit samt Säcke voller Kartoffelkanonen und dem anderem Schießzeug, mit dem einst Jagt auf Mäuse gemacht worden war, plus die paar wenigen abgepackten Substanzen, die sich auf Anhieb im Chaos des Bunkers finden ließen. Am nächsten Morgen stand D. wieder in seiner Bude, als könnte ihm nichts geschehen. 

Das war schrecklich, dass Brutus tot war. Ping Pong ließ ihn einäschern. Sie weinte wie ein Schlosshund. Die Urne mit Namen und einem Foto von Brutus eingraviert beerdigten wir eigenhändig auf einem ehemaligen Friedhof in der Nähe, der zwar Anita Berber-Park hieß, aber weniger wie ein Park, sondern eher wie ein großes Hundeklo daherkam. Wir buddelten einfach ein Loch an dem Baum, an den Brutus immer wieder so gern gepinkelt hatte, und D. schüttete seinen halben Wodka hinein, als solle daraus etwas wachsen. Neben D. waren Messer-Paula dabei und noch der Kumpel, mit dem er dealte. Ich gehörte dank des SEK-Einsatzes nun voll und ganz zum inneren Kreis. Im Anschluss waren wir zum Leichenschmaus bei Messer-Paula eingeladen, die in der Nähe des Hundeklos wohnte. Es wurde harter Alk gereicht und allerlei zum Ziehen, wovon ich mich fernhielt. Ich genehmigte mir lediglich ein Glas und begutachtete Paulas Loch.  

Ihre Bude war noch krasser als der Bunker. Ihre Küche konnte am besten als ein zusammenhängendes Netz aus Schimmelpilzen beschrieben werden. Das Wohn- und Schlafzimmer als das Zusammenwirken von Schwer- und Fliehkräften, das ausgezeichnet von den hier verborgenen Drogenverstecken ablenkte. Was nicht nagelfest war, war herausgerissen, Klamotten flogen, Fotos baumelten von den Wänden, irgendwo lief wieder eine Klotze. Paulas Chaos hatte etwas Sympathisches. Ich stellte inmitten des Leichenschmauses fest, dass mir Messer-Paula einfach mehr zusagte als Ping Pong. Vielleicht verwirrte meine Gefühle auch nur der Verlust von Brutus. Ich konnte meine Gefühle nie so recht zuordnen. Zumindest hielt ich sie für eine Gute. Wohingegen Ping Pong etwas Berechnendes an sich hatte. Messer-Paula und ich quatschten ein wenig und ich kam in einem intimen Moment in der Küche, als von den anderen keiner zugegen war, direkt auf die Frage, ob sie und D. was miteinander am Laufen hätten. Aber sie konnte mir glaubhaft versichert, sie wären einfach nur die besten Freunde der Welt und überhaupt noch nie in der Kiste gewesen. Messer-Paula verriet mir sogar, dass es bei D. wegen der Süchte kaum Sex mit Ping Pong gäbe. 

„…keinen mehr“, korrigierte sich Messer-Paula. 

„Überhaupt noch nie etwas!“, hatte Ping Pong Wochen zuvor behauptet. 

Ehrlich gesagt, wusste ich nicht, wem ich Glauben schenken sollte, wer von ihnen es ehrlicher mit mir meinte. Immerhin hatte ich es an dem Nachmittag nach Brutus‘ Beerdigung geschafft, mit Messer-Paula richtig eng zu werden. So eng, dass sie an D.‘s Todestag sofort zu mir herüberkam und sich in meinen Armen ausheulte. Ich weiß noch genau, wie sie unter meiner Tür stand. Ich mochte es ja auch bei ihr. Diese Energie in ihren selbstzerstörten vier Wände zog mich in den Bann. 

In der verbliebenen Zeit hielt sich Ping Pong nur noch selten bei D. auf. Wenn sie nach drüben ging, hörte ich mit einem Ohr an der Wand die Schreierei ihres Streits. Sie sagte D.  geradeaus ins Gesicht, dass die Ärzte ihm bereits eine irreversible Leberzirrhose diagnostiziert hatten, dass er sich tot soff, dass sie weg wäre, wenn er nicht den Entzug wagte. Dann schmiss er wieder mit allen möglichen Gegenständen um sich, donnerte sie an die Wand, zerschlug mit der Faust die Holzverkleidungen des Türrahmens. Er schlug Löcher ins Mauerwerk. Spätestens jetzt quatschte Ping Pong den lieben langen Tag von Mode und, dass sie in einer schnieken Boutique arbeiten wolle. Jetset. Ohne Brutus hielt sie hier nichts. Sie war in unserem Innenhof aus dem Nichts aufgeschlagen und sie würde von heut auf morgen verschwinden. 

– – –

Im letzten Jahr pflegten D. und ich eher ein angespanntes Verhältnis. Ich fragte mich, ob er mir die Schuld dafür gab, dass Ping Pong in den Westen der Stadt umgezogen war. Das wäre natürlich völliger Quatsch gewesen. Denn er hätte selber wissen können, dass sie erstens ihren eigenen Kopf hatte und zweitens mit der Zeit seine Performance an Effekt und Faszinationskraft einbüßte. Er hatte sich zum Entzug angemeldet und wartete darauf, dass ein Platz frei wurde. Acht Monate war es um ihn völlig still geworden. Die verbrachte er erst im Entzug und anschließend zur Therapie in einer Klinik. Ich hatte großen Respekt davor, dass er seine letzte Chance beim Schopfe packte. Er meinte es ernst, selbst wenn es Auflage der laufenden Gerichtsverfahren gewesen war, die er an der Backe hatte.

Als D. zurückkehrte, war seine Frohnatur dahin. Sein Witz und Charme, die einfach jeden zum Lachen gebracht hatten, egal wo einer herkam, aus welcher Klasse, oder wie jemand drauf war, welche Drogen man nahm, waren nun tief vergraben. Dafür zeigte er in Gesprächen seine nachdenkliche Seite. Er berichtete von den zahlreichen Verfahren und wie viel Glück er gehabt hatte, dass das SEK seine Drogenversteck nicht gefunden hatten, was ja der eigentliche Grund ihres Besuches war. Über Ping Pong verlor er kein Wort. Als wäre Ping Pong nur eine von den Vielen gewesen, die in Lust auf Sensation aufschlugen, um einer seiner suchtkranken Shows beizuwohnen und auf nimmer Wiedersehen verschwanden. Dabei war es wohl Ping Pong, die durch ihren Auszug etwas bewirkt hatte. Er berichtete von den heilenden Gesprächen mit der Therapeutin aus der Klinik, von seiner Gewissheit, es dieses Mal geschafft zu haben, vom Wissen um seine letzte Chance. Gegen Herbst redete er dann davon, dass er inzwischen wieder Bier trinken konnte, ohne rückfällig zu werden. 

In den letzten Wochen hat er dem Dämon ganz Einlass in seine Wohnung und in sich gewährt. Da war kein Platz mehr für einen leichten Gedanken, der einen vom Boden hebt und einer Hoffnung entgegenträgt. Da stand er nur noch im Bann der Materialitäten, der Gifte und der kaputten Organe, die mit aller Macht ihren Tribut einforderten. Wir hielten uns fern. Wer jetzt noch ein und ausging, der hauste sonst unter Tage, vor allem in U-Bahnstationen. Das waren nur noch lebende Leichen, über die wir sonst hinweggestiegen waren, die sich wie die Ratten durch offene Haustüren drückten und sich in fremden Kellern einen nicht einsehbaren Ort zum Spritzen und Rauchen suchten. Mit Stöcken und nackten Fingern hakten sie den Sand zwischen Pflastersteinen auf der hoffnungslosen Suche. Man roch sie im Hausflur, bevor man sie erhaschte. Darunter war kein alter Freund mehr. D. hatte sich aufgegeben. Es war sein persönlicher Selbstmord auf Raten. Die Lebensenergie war aus ihm gewichen. Da gab es keine Kraft mehr für eine lustvolle Performance, für einen Schießwettbewerb im Wohnzimmer oder im Keller mit Kartoffelkanonen, für eine Ausstellung selbstgebauter Fahrräder, für einen Ausflug auf den Spreekanal, für eine witzige, wilde Ektase, für eine letzte Show. Selbst Messer-Paula war nicht mehr gesehen. 

Seit Langem schneite es mal wieder. Der Schneeregen verwandelte den Innenhof in ein Matschloch. Ich sah D. das letzte Mal, wie er an meinen Fenstern vorbeihuschte zu den Mülltonnen. Ich hörte noch einmal ein Gerumpel. Dann Tage gar nichts. Keinen Mucks durch die Wände. Es musste eine letzte Prügelei gegeben haben, bei dem er sich eine Verletzung an der Milz zuzog. Er hatte sich, ohne die Operation abzuwarten, aus der Klinik entlassen, um rasch zurück in den Bunker zu den Drogen zu kommen. Es ging auf Weihnachten zu und ich igelte mich ein in Erwartung an ein tagelanges Alleinsein. An jenem besagten Tag habe ich überhaupt niemanden gesehen, bis es spät am Abend an der Tür klopfte und Messer-Paula heulend vor mir stand. In sie, die Männer-Mordende und bessere Hälfte von D., hatte ich mich, so glaube ich, in jenem Moment verschossen. Sie würde ich einmal noch kontaktieren. Dann würde ich ihr beichten, was mir in den Kopf schoss, als ich sie das letzte Mal im Arm hielt. Es war drüben bei ihm. Zu meiner Überraschung ließ die Kripo mich und Messer-Paula dort stehen, während sie beschäftigt war, Spuren zu sichern. Wir wurden nicht einmal befragt. Als seien wir Lebenden nicht mehr von Bedeutung. Messer-Paula und ich hielten uns einfach nur fest, und ich meinte, etwas erregte auch sie. Ich bildete mir ein, ihre Lippen an meinem Hals zu spüren, als ich an ihr vorbeiblickte auf ihn, wie er dort leblos und bereits zusammengefallen auf seinem Sofa lag. 

Aber ich bin zurück nach Bayern gezogen. Ich habe eine Frau auf einer Dating-Plattform kennengelernt, die mich unbedingt heiraten wollte. Ihre konservativen Eltern lagen ihr mit dem Heiraten wohl schon länger in den Ohren. Irgendwie fand sie meine Geschichte, vorbestraft und mit den krassesten Leuten des Problemkiezes befreundet gewesen zu sein, unglaublich erotisierend. Ich arbeite sogar wieder, nun in einem lokalen Tourismus-Büro. Früher hatte ich das Gefühl, nirgends zuhause zu sein, und heute denke ich mir, ich bin so flexibel, ich kann mich überall heimisch fühlen. 

© Patrick Schneider, 2024