On The Beach at Night Alone

Kurzgeschichte

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On The Night at Beach Alone

Am frühen Morgen, als die Nacht verblasst, fährt der Wind durch die Blätter der Rosensträucher im Hinterhof. Keine Taube, die das Rauschen des luftigen Streichelns stört, sondern das Klackern von Stöckelschuhen auf der untersten Treppe des Vorderhauses reißt ihn aus dem Traum. Er sitzt und sieht vom Bettrand, wie die hohen Sträucher im Luftzug wippen. Der Moment, den er vor sich hat, ist so sprechend anzusehen, dass dieser Hof für eine Weile in einer weit entfernten, anderen Großstadt oder sonst wo liegt. Schnell ist diese schlaftrunkene Intention verflogen. Er weiß, er hat seine Leidenschaft für die Kunst verloren. Wenn er sich ins Bett zurückwirft und aufblickt, erheben sich die Feuerwände der Nachbarhäuser in den leeren Himmel. Durch das geöffnete Oberlicht rauscht es heftig. Ein weiteres Mal fegt der Wind die Fassaden hinab. Er hat sie nicht verloren, wie Erinnerungen an einen Verflossenen mit den Monaten verschwimmen. Sowie dessen feine Gesichtszüge verschwunden sind, bleibt noch ein vereinzeltes Gefühl ohne Bild zurück, das er in seiner inneren Bibliothek aufbewahrt. Seine einstige Leidenschaft zur Kunst, der er immer den Vorzug vor einer Beziehung gegeben hatte und die ihm unstillbar gewesen war, hinterlässt in ihm gar kein Gefühl mehr, nicht eine Stimmung. Keine Signatur führt zu ihr. Nichts. Jetzt sitzt er sogar auf der Klavierbank gleichgültig. 

Am vorangegangenen Abend hatte eine Fremde ihn an der Straßenkreuzung angelächelt. Sie zwei warteten unweit einer Baustelle auf der Flughafenstraße darauf, dass der Verkehr zum Erliegen kam. Kurz zuvor war er ihr bereits an der Supermarktkasse begegnet. Er hatte sie sich verblüfft angesehen. Er hatte sich gedacht, eigentlich langweilen mich Frauen, denn Männer hauen mich um, aber sie scheint geschlechtslos elfengleich. Als er sich am Morgen die Beine vertritt, triff er ein drittes Mal auf die fantastische Unbekannte, als wäre es ihr beider Schicksal. Sicherlich ist sie zehn Jahre jünger als er. Kurz überlegte er, ihr ein Kompliment zu machen, und gibt sich dann doch damit zufrieden, dass sie ihn wortlos mit ihrem offenen Lächeln grüßt. Es erregt ihn, wie groß sie gewachsen ist, besonders auch ihre spitzen Ohren, hinter denen sie die blonden Locken zusammengebunden hat, und ihr strahlender Hals. Seine Lippen würden leicht an ihren Nacken heranreichen. Aus welchem Land sie wohl kommt, das wüsste er nur zu gern. Denn keiner kommt von hier. 

Auf der Straße scannt er den nächsten E-Scooter, um durch den Süden der Stadt zu einem besten Freund zu cruisen. Endlich sieht er dessen drollige Augen wieder. Die vom Rudern durchtrainierte Brust fand er immer zum Anbeißen, doch ausgereicht hatte das nicht. Sie sitzen in der schlichten Küche des jüngeren Bruders beisammen, weichen Reispapier ein und bereiten Frühlingsrollen zu. Unaufgeregt tauschen sie sich über eine Aufnahme aus und wenig später wird er mit vollem Bauch im privaten Tonstudio über eine melancholische Melodie einen Text einsingen, den er vor Jahren für ein Theaterstück verfasst hatte. Diese Handvoll übereinander laufender Tonspuren, die nie abgemischt werden, bekommt einen besonderen Wert zugesprochen. Ihr unfertiges Zusammenklingen kündet von einem Abschluss. Ich kann es dabei belassen, konstatiert er. Von der befremdlichen Ernsthaftigkeit in seiner Stimme, die sonst so viel Witz versprüht, ist sein bester Freund sichtlich überrumpelt. 

Er möchte unbedingt aus dem Trott heraus, der ihn in diese Sackgasse geführt hat. Er muss irgendetwas unternehmen, das ihm bis dahin fern schien, und läuft den Rückweg von Schöneberg in den Kreuzberger Norden zu Fuß. Auf einer Parkbank bucht er sich Zugtickets in die Sächsische Schweiz, wo er noch nicht gewesen ist, und mietet auch sogleich ein Hotelzimmer. Erst mal für eine Nacht. Jeder weiß, dass in diesen Wäldern unweit der deutsch-tschechischen Grenze bis heute Casper David Friedrich umhergeisterte. Aber er meint, dort wandern zu können, ohne dem Popstar unter den Malern über den Weg zu laufen. Er sei noch nie einem Künstler oder einer Künstlerin wie ein Groupie hinterhergereist. 

Der Zug, der zwischen den Hauptstädten Berlin und Praha verkehrt, bringt ihn dazu, mit dem Sonnenaufgang aufzustehen. Im voll belegten Großraum sitzt er neben den blassen Pendlern des Wochenbeginns. Er hält sich unter seiner Kappe bedeckt. An jener Station, wo nur er aussteigt, steigt kaum jemand ein. Das entspricht genau seinem Gemütszustand. Am Spätnachmittag wird er mit der Regionalbahn zum Hotel zwei Station zurück müssen. Er besucht den viel zitierten Felsblock unweit der Kaiserkrone. Auf dem Nachbarsgrundstück prangt an der Hauswand der Reichsadler auf einer unbeschädigten Plakette und weist ein angebliches Deutsches Schutzgebiet aus. Ein zweites Schild warnt, dass stirbt, wer hier klaut. Gerade fehlt ihm der Trotz, über den Zaun zu steigen und die beiden Schilder abzuschrauben und einzupacken. 

Bis der Hunger einsetzt, liegt er auf dem Hotelbett und streamt einen koreanischen Film, dessen Titel so gar nicht zu diesem Gedicht Whitmans passen will, das er zitiert… On The Beach at Night Alone. Die Religiosität der Verse, die er nebenbei auf seinem Smartphone liest, bleibt ihm fremd. Dafür könnte er der Schauspielerin Kim Min-hee die Nacht hindurch zuschauen, wie sie jene Rolle ausfüllt, die in ihrer isolierten Gemütslage badet, wie sie keift und unentwegt raucht. Aber eben die Stimmung des Films überwältigt ihn so sehr, dass er ihn anhält. Hat er es mit der Kunst richtig gemacht? In seinen eignen Texten und Plastiken hatte er nicht den Mut aufgebracht, sich nur auf ein Zitat oder nur auf eine Atmosphäre zu verlassen. Er hatte stets geglaubt, mehr bieten zu müssen, um nicht Unausgereiftes abzuliefern und andere zu ermüden. Es hatte nie ausgereicht. 

Am Abend bekommt er den letzten freien Tisch im aufgepeppten Hotelrestaurant zugewiesen. Er hat doppelt Glück, dass er erst ohne Reservierung und jetzt allein mit freiem Blick auf den pittoresken Marktplatz sitzt. Vor ihm erhebt sich das Rathaus mit seinem schmucken Turm. Die vergoldeten Birnen und Löwen des Stadtwappens unter der jahrhundertalten Turmuhr glänzen im letzten Abendlicht. Er bestellt einen Burger mit irischem Weiderind und glutenfreiem Bun. Damit hatte er nicht gerechnet… Während er auf sein Getränk wartet, erblickt er aus der Ferne ihre blonden Locken und wird sich mit jedem Meter gewisser, dass es die Kreuzberger Elfe sein muss, die ihm hier in der Ost-Provinz von Pirna erscheint. Sie kommt behutsam mit einer zusammengeschrumpften Greisin unterm Arm auf ihn zu. Wie die zwei im Restaurant einkehren, spielt er den Ahnungslosen. Weil die Servicekraft den Frauen aber mitteilt, dass alle Tische belegt seien, tritt sie freudig überrascht an ihn heran und bittet etwas zu überdreht, bei ihm Platz nehmen zu dürfen. Er weiß, dass der Zufall mal Anfang aller Romantik war. 

Es braucht seine Zeit, bis die alte Dame vom Mantel befreit sicher auf dem Stuhl neben ihm sitzt. So kann sie die Aussicht genießen. Die Enkelin ist im Gespräch mit ihr, dem er unbeteiligt folgt, herzensgut. Immer noch gleicht sie einem Fabelwesen. Ihre spitzen Ohren könnte eine Maskenbildnerin geformt haben. Nur diese leicht quakende Stimme will nicht recht zu ihr passen. Auch hat sie einen Frosch im Hals. Als sie endlich ihm gegenüber Platz genommen hat, gibt sie sich einen Ruck und spricht den Schweigsamen auf ihr Wiedersehen an. Aber er täuscht einen Doppelgänger vor. Er sei ahnungslos. Kein Wort nimmt sie ihm ab und probiert es mutig mehrmals, ihm auf die Sprünge zu helfen. Sie kann sich wirklich detailliert an ihre Begegnungen im Supermarkt und auf der Straße erinnern. Bis er aber seinen Burger zu Ende gegessen hat, ist ihr fabelhaftes Wesen von einer unartikulierten Irritation verdunkelt. Gutgläubig fragt ihn noch die Alte nach seinem Leben aus und er will sich spontan ein fremdes Leben zurechtlegen, das die kleine Runde unterhalten kann. Keine Chance. Seine Fantasie begeistert ihn selbst nicht mehr. Kurzerhand erzählt er von sich so, wie das Leben ihm tatsächlich mitgespielt hat. Nur eben ihre Kreuzberger Zufallsbegegnungen soll es darin nicht geben haben und sein eigener Namen bleibt freierfunden. 

Diesen Zufallsnamen benutzt er am nächsten Morgen beim Auschecken. Er beharrt darauf, dass sein Vorname in der Datenbank des Hotels geändert wird. Nach langem Zögern gewährt die Rezeptionistin ihm den überflüssigen Wunsch. Sie tippt… und hämmert auf Speichern. Er nimmt sich etwas vor. Er könnte ihn sogar in seinen Personalausweis eintragen lassen. Mit dem neuen altbackenen Namen (Friedrich) will er es noch mal probieren. 

Auf der Rückfahrt ändert er erst sein Pseudonym in den sozialen Medien und Dating-Apps und sucht darauf vergeblich nach ihr, deren vollen Namen er sich abgespeichert hatte. Am Ende ist er angenehm verzweifelt, sie nirgends ausfindig zu machen. So bleibt alles ein Schatten. So wird sie zu einer vereinzelte Stimme in seiner inneren Bibliothek, die einmal für ein neues Projekt gut sein wird. Die sächsische Landschaft der Fluren ohne Busch und Baum, die von Konzernen bestellten Äcker vor dem Zugfenster und auch das abgedunkelte Abteil bleiben die Fahrt über in Schatten gehüllt. Die Schattierungen sind ihm vertraut. Sie haben sich in zwei Jahrhunderten von der Landschaft mit ihren Naturfarben in reine Farben und Abstraktionen aufgelöst. Weiterhin ist also etwas statt nur nichts, grübelt er und erfreute sich in seinem Gedankennebel an diesem alltäglichen, gewöhnlichen Wunder. Es bliebe sogar ein Mysterium, selbst wenn alles nur eine Illusion ist. Denn die Welt, die wir berühren können, und noch das Universum sind nicht mehr als eine zweidimensionale Fläche aus Informationen auf der Oberfläche eines göttlichen Schwarzen Lochs. Die eine Seite eines Schwarzen Lochs, auf der wir uns befinden. Wie es wohl auf der anderen Seite aussieht? 

© Patrick Schneider, 2021