Hirschberg

Auszug aus einem unfertigen Roman

1

Ingrid starb zuerst. Viele fanden, der Unfall, der sie ereilt hatte, wäre ihr nicht würdig. Immerhin wurde sie 75. Fast 75. Am zweiten des Juni wäre es wieder soweit gewesen. Ihr Alter hatte Ingrid nur selten verraten. Abergläubisch scherzte sie, je Weniger davon wüssten, umso mehr Zeit bliebe ihr. Also feierte sie keine Geburtstage mehr und warf auch die gutgemeinten Glückwünsche, die die Engsten weiterhin an sie richteten, aus dem Fenster. 

Im letzten Jahr kam ein knappes Dutzend Yoga-Schüler und Schülerinnen auf den Berg. Sie kamen in der Regel monatlich zum Einzelunterricht. Manche konnte Ingrid auch dazu inspirieren, an einem ihrer Workshop-Wochenenden teilzunehmen, an denen sie über die Körperübungen hinausführte in das Lebenswissen, in das Buch der Bhagavad-Gita und die Sutren des Patanjali. Ich ahne, warum sie zu ihr pilgerten. Weil Ingrid an sich selber nichts heilig gewesen ist. 

Auf Empfehlung kam auch ich zu einer Probestunde. Normalerweise vereinbarte Ingrid nach einer Sitzung einen neuen Termin für den nächsten Monat und trug ihn direkt in ihren schwarzen Kalender ein. Der mit schwarzem Leder eingebundene Kalender lag dazu in der Küche offen auf der Arbeitsplatte parat. Nebenan stand ein weißes Telefon in seiner Ladestation. Kalender und schnurloses Telefon bildeten ein stilles Brüderpaar, von dem einer mit Ingrid durch das kleine Hause wanderte und am Ende der Tour über das Wohnzimmer und durch das obere Stockwerk immer wieder zurückkehrte, als seien Telefon und Kalender unzertrennlich. Später sollte Ingrids Tochter die beiden trennen. Das weiße Telefon landete in ihrem Offenbacher Keller in einer Kiste zusammengedrückt mit anderen, nutzlos gewordenen Gegenständen. Der Kalender weit entfernt in einer klappernden Wandschrankschublade.

Auch für eine Probestunde nahm Ingrid Geld. Sie verlangte von mir dreißig Euro. Dreißig, das war, abgesehen von Probestunden, ihr Sonderpreis, der jenen vorbehalten war, die sich nicht mehr leisten konnten… oder wollten. Lino und Boris zahlten beide den Sonderpreis. Mit einem schwarzen Filsstift hatte Ingrid diese zwei Namen in der Spalte des ersten Maifreitags festgehalten und beim Schreiben gedankenverloren Boris bemerkenswert nah an Lino gedrängt. Oder war der Fuß von Lino soweit nach unten weggerutscht, sodass nun Lino an Boris‘ Arm stieß? Ingrid stand mit mir in der Küche, den Kalender in der Hand, und untersuchte die eigene Schrift. Ich erkannte, dass in dem schwarzen Kalender noch viele Tage frei waren. Mit dem Ausbruch eines Lachers schlug Ingrid ihn zu. Ihr frecher Blick fixierte mich. Geradeaus sagte sie mir, dass sie mich nicht unterrichten werde. Im nächsten Satz wurde ich verabschiedet. 

Wen Ingrid aufnahm, den führte sie mit den immer gleichen Worten ein. Yoga ist das Leben. Yoga ist von heute an deine tägliche Praxis. Die tägliche Wiederholung wird dir weiterhelfen, stabil und flexibel zu werden. Yoga ist keine Gymnastik. Es ist mehr als ein Mittel zum Zweck oder ein Mittel zu einer schlauen Einsicht. Was es für dich ist, wirst du herausfinden. Wer sich im Leben aber nicht übt, der braucht erst gar nicht zu mir zu kommen. Hüte dich vor denen, die zu heilig und zu ehrfürchtig tun. Vor allem hüte dich vor deiner eigenen Faulheit.

An Ingrid

Jetzt wohne ich in deinem Haus. Ich habe es gekauft. Deine Tochter hat es zu einem Freundschaftspreis an mich abgedrückt. Sie lernte mich zwar als den Makler kennen, der vorgab, aus beruflichen Interesse auf das außergewöhnliche Objekt aufmerksam geworden zu sein. Aber sie verkaufte es mir privat, für mein Sabbatjahr. Deine Tochter Nadine ist unsicher darüber gewesen, wie Du dich wohl entschieden hättest. Zuerst ließ sie dein Haus für Monate leer stehen, bis Wasser durch die Decke drang und die Wand am Berghang aufschwamm. Sie glaubte, dass Du ein Museum verabscheut hättest. Auch wollte sie keine Pilgerstätte. Selbst ein einfaches Retrait, wie es ihr ein paar Schüler vorschlugen, schlug sie aus. Es seinem aktuellen Wert entsprechend teuer zu verkaufen, kam für Nadine auch nicht in Frage. Vielleicht, wie sie dich kannte, hättest Du es ja verschenkt. 

Jetzt möchte sie dein Haus von mir zurück. Es ist für so viele ein Objekt der Begierde. Leute, die dich kannten, und auch Fremde. Die einen, weil sie dich nicht gehenlassen können. Die anderen wegen der Abgeschiedenheit und des Ausblicks. Ich könnte jeden Preis verlangen. 

2

Ingrids letzter Coup war es, Boris und Lino, die zwei Halbbrüder, zusammengeführt zu haben, ohne dass jemand von uns von ihrer Verwandtschaft gewusst hätte. Auch ich habe keine Gentests vor mir liegen, während ich auf diesen besonderen Ort herausblicke, den sie so herrlich angelegt hat. Die Grande Dame, sie hatte eine Schwäche für alles Französische… und besaß einen siebten Sinn für alles, was zueinander drängte, und was nicht zusammenpasste. Lino war sein erstes Jahr noch mit seiner Freundin zum Unterricht gekommen. Als er am Yoga dranblieb, tauchte einige Male auch seine Mutter auf. Spöttisch merkte Ingrid bald an, Frauen seien sein Verhängnis. Er sollte sich mal die Frage nach seinem Verhältnis zu den Frauen stellen. Als er Ingrid das erste Mal begegnet war, da war Boris bereits eine längere Wegstrecke mit Ingrid gegangen und hatte sich zu einem ihrer wahren Schüler gemeistert. Über fünf Jahre übten die zwei Männer hier oben, ohne dass sich ihre Wege kreuzten. Nicht einmal den Namen des anderen hatten sie bis zu Ingrids letzten Tagen vernommen. Schwer vorstellbar auch, dass Boris bis zu ihrem Tod ein eigenbrötlerischer Einzelgänger gewesen war, wenn man ihn jetzt als den digitalen Szene-Guru kennt, dessen Follower es in Sinnkrisen stürzt, wenn er eine Woche lang keinen Post von sich gibt.  

An dem besagten Tag saß Ingrid über dem schweren, gusseisernen Gartentisch mit Tabak, Filzstift und dickem Papier und hielt Boris‘ neues Übungsprogramm festhielt. Sie zeichnete Männchen, die die einzelnen Asana-Schritte vormachten, mit klarem, einfachem Strich. Die Strichmännchen bekamen eine Nase zur Ausrichtung des Kopfes und des Blicks, hatten Füße und Gelenke. Da Boris in der Kriegerposition auf seine Haltung der Schultern achtzugeben hatte, markierte sie die entsprechende Körperstelle eines der Strichmännchen mit Rot. Gekonnt drehte sie sich eine krumme Zigarette. Während sie dort im Garten rastete und rauchte, trug Boris ihr das frische Scheitholz ums Haus. Er hatte Kraft. Dann überflog Ingrid nochmals die ersten zwei aufgezeichnete Reihen der Asana-Abfolgen, die von ihren Strichmännchen vorgetanzt wurden… in einer Übung hatte sie einen Zwischenschritt vergessen… und zerriss das Papier. 

An Ingrid

Was von dir bleibt, ist eine Austernschale. Die hast du als Aschenbecher benutzt. Außerdem der Messingbuddha aus dem Garten, der weiterhin auf den weißen Kalksteinen neben dem Eingang zur Küche ruht, und im Wohnzimmer der zuletzt eingebaute, schwarze Holzofen, den ich bald einmal benutzen werde. Dein Hausrat und deine persönlichen Dinge, die du wie in einer Galerie überall im Häuschen arrangiert hattest, wurde von deiner Tochter abgeholt. Das Bett in der Küchennische habe ich herausreißen lassen und ersetzt. Auch die Küche selbst. Mittlerweile ist wieder Marmor angesagt. Die Wendeltreppe ist natürlich geblieben. Es musste die Dachterrasse erneuert werden, der Wasserschaden behoben, die cremeweißen Raufasertapeten heruntergeholt. Ich habe Kork statt der Teppichböden verlegen lassen. Nebenan im Wohnzimmer habe ich deinen massiven Schreibtisch wieder an dieselbe Stelle gestellt, mit dem deine Tochter nichts anzufangen wusste. 

Bei unserem letzten persönlichen Treffen, als sie mir offenbarte, das Haus ihrer Mutter retour kaufen zu wollen, hatte sie mir noch vom Ehemann einer jungen Ärztin unten aus dem Ort erzählt. Jener Baumpfleger, der hier immer mal wieder ums Grundstück schleicht und der dir umsonst zu Hand gegangen war, weil er sich was aus dir gemacht hatte. Er hat die zwei Fichten gefällt, an deren Stelle du die überhohe Schaukel einbetonieren ließest. Auch die Schaukel gibt es noch. Ich weiß, dass du ihn vom Grundstück gejagt hast, als er romantisch mit einer Flasche feinen Rotwein daherkam. Du warst niemandem etwas schuldig. Und ich bin’s dir auch nicht. 

(…)

© Patrick Schneider, 2023