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Kurzgeschichte

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Der Kiez, in dem ich seit fünfzehn Jahren eine Wohnung angemietet habe, ist an Weihnachten wie ausgestorben. Sonst herrscht im Viertel ständig Trubel. Denn hier dreht sich die Welt nicht um die Sonne, hier dreht sich die Welt um sich selbst. Am Ende haben fünfzehn Weltumdrehungen ausgereicht, dass die Stadt nicht mehr wiederzuerkennen ist. Wir befinden wir uns hier mittlerweile am Mittelpunkt des Universums. Doch obwohl am Mittelpunkt des Universums angekommen, reisen meine Nachbarn an Weihnachten ab in die Heimat und dann ist es wieder leergefegt von jenen Zugezogenen, den Trendsettern und Rastlosen, als hätte sich in all den Jahren nichts bewegt. 

Zwischen den Jahren geht es also noch ruhiger zu als im touristenarmen Februar oder während der ersten Pandemie-Welle. Gewöhnlich fahre auch ich am dreiundzwanzigsten Dezember mit einer alten Schulfreundin zu meinen Eltern und lege Mitbringsel unter eine glitzernde Tanne. Dort spreche ich meinen alleinerziehenden Bruder mit seinem Sohn. Besuche auch meine steinerne Großmutter. Trage ihre dünne, leichte Hand in meiner und spüre, dass diese kurze Stunde der Ruhe und Aufrichtigkeit für ein ganzes Jahr ausreicht. Zwei Tage später zurück steige ich am Südbahnhof aus. Der Bahnsteig, die S-Bahn, die U-Bahn und die Karl-Marx-Straße sind selbstverständlich menschenleer. Nur hier und da ein Obdachloser, der die Stange hält. Viele von ihnen kenne ich vom Sehen. Dann stelle ich mir vor, ich sei nicht der einzige, der jedes Jahr am Südbahnhof ausgespuckt wird, obwohl er sich vorgenommen hatte, erst gar nicht wegzufahren. 

Dass sich Weihnachten endlich ändert, dafür standen die Chancen seit dem Sommer gut. Mit der Pandemie blieben die Clubs geschlossen und ich bemühte mich um so etwas wie eine Partnerschaft. Für mich ist oder war es eine Partnerschaft, denn es hatte schon etwas Besonderes, mich einmal zwischen Frauen und Männern entschieden zu haben. Ich richtete meiner alten Familie aus, ich feiere mit meiner neuen „Freundin“ bei mir daheim und stellte überrascht fest, mit welcher Selbstverständlichkeit man mein Fernbleiben hinnahm. Leider überraschte mich auch Rico. Er überraschte mit einem Malta-Urlaub. Ein Urlaub allein und zur Erholung. Zwei Wochen Club-Hotel. Von dem er schon immer einmal geträumt hätte und der sich nur zu Beginn einer zweiten Welle böte: einsam an einem menschenleeren Strand zu schlendern und nur zu denken. Sonst nichts. Weg war er. 

Es gibt bei mir im Viertel jemanden, der eine 6 malt. Eine ganz bestimmte 6 malt er oder sie  an alle erdenkliche Wände. Über Plakate, auf Sperrmüll oder auch auf den Straßenasphalt. Die eine identische 6 mit kleinem Bauch und langem Hals. Zuerst mal nur diese 6. Als erstes ist sie mir in Weiß aufgefallen, später in seichtem Pastellton. Nur selten mehrfarbig. Ganz klein bis metergroß. Ich trete morgens auf die Straße, entdecke in einer Ecke eine neue, die sich in der Nacht, als ich über die Straßenkreuzung gekommen war, dort noch nicht befand. Die 6 ist ein Zeichen. 

Am Ende des Films „Das Leben der Anderen“ – Oscar 2006 – gibt es eine kurze Sequenz, in der ein DDR-Schriftsteller seinen ehemaligen Stasi-Spitzel erspäht. Aus einem Taxi heraus beobachtet dieser Schriftsteller den Ulrich Mühe, der den Spitzel spielt, wie er mit einem Einkaufstrolly die Arbeiterpaläste der Karl-Marx-Allee entlanggeht und an einer Balustrade vorbeikommt, wie sie der Sozialistische Klassizismus vor das Hochparterre seiner Arbeiterpaläste setzte. In Ulrich Mühes Rücken, unter der Balustrade befinden sich zwei unscheinbare 6en. Eine Stehende, eine liegend. Der Film wurde vor genau fünfzehn Jahren gedreht, als ich in diese Stadt zog, und die sich seitdem viele Male selbst umkreiste. Die 6 aber hat es schon immer gegeben.

und nochmals 6 – sie sind die einzigen Objekte eines Künstlers, bei denen ich aufrichtig dazu stehe, dass sie mich… ja, was? auf Pissoir, entsorgt und als Gipfel eines Müllbergs. Müllhaufen gibt es hier überall. Oder auf der Rückseite eines einsamen, eingeschlagenen Flachbildschirms. Eine 6, die in eine übergeht, eine 67(sprich: sechsieben) oder 76 (sprich: siebsechs). Vornüber gefallene 6en, nach hinten umgekippte 6en und eine schwebende 6, unter deren Hals die URL de.de geschrieben steht. All das mit dem immer gleichen raschen Pinselstrich, dick aufgetragen. An Plakatwänden von den Schichten überklebter Plakate das oberste aufgeschnitten, weggeknickt oder heruntergerissen, damit das vorherige Plakatmotiv nochmals zu Tage tritt… Hinweise auch hier – #strg. Manchmal ein Exzess von Zeichen, wie eine Selbsterklärungen – ↓.tk #type.ALT #strg. Immer wieder ↓.tk.de.de, alternativ de.II und dann dieses grinsende Punkt-Punkt-Strich-Gesicht. Ein Smiley, der plötzlich auftaucht.

Ich habe vorhin unter meiner Maske einen Sonntagspaziergang durch meinen Kiez zum Kanal und zurück unternommen. Für die Feiertage war da draußen erstaunlich viel los. Freundesgrüppchen und Familien unter sich, die im Lockdown nicht mehr weggekommen sind. Trotzdem ist es etwas anderes, hier Heilig Abend zu verbringen. Man trifft auf keinen Lichterkitsch und auf keine vollen Kirchen, als müsste Weihnachten erst erfunden werden. Auf dem Rückweg habe ich mir eine Packung Fondue und Wein besorgt, damit ich gestärkt bin für die Nacht. Ich laufe also meine Straße runter an dem üblichen Dutzend 6en vorbei. Ach was, wenn ich aufmerksam bin, an dreißig, vierzig. In einem ewigen Kreislauf werden die einen von der Müllabfuhr entsorgt, während anderswo frische auftauchen. Ich war die letzten Jahre ohne Arbeit oder musste fürs Fernsehen früh aufstehen. Ich war mal morgens früh auf den Beinen, mal nachts unterwegs und habe Ausschau gehalten. Eine Person mit Farbeimer ist mir nie begegnet. 

Mich fasziniert, wie die 6 entsteht. Ich vermute, der Verfasser des Mysteriums ist eine unscheinbare und besonders gewiefte Person. Sie geht wohl zwischen vier und fünf in der Früh auf Streifzug. Sicherlich ausgiebig an jenen Tagen, an denen nachts nur wenig los ist. Ich habe mir Notizen gemacht, aber keine Regelmäßigkeiten feststellen können. Es entstehen an jedem Wochentag welche. Aber das geringste Risiko, ertappt zu werden, geht sie zweifelsohne sonntags auf montags ein. Ich denke, die Feiertage jetzt sind prädestiniert. 

Irgendwann mal war mir ein Fahrrad aufgefallen. Die Straße hoch, unweit meiner Wohnung war es gegenüber der Kneipe „Knecht Ruprecht“ angeschlossen. Am Lenker ein Farbeimer mit aufgemaltem, schelmisch grinsendem Smiley in Blau. Blaue 6en jedoch gibt es nicht. Das Rad stand zwei Jahre dort wie abgestellt und nicht abgeholt. Dreckig, verbogen, regungslos. Ich habe mich gefragt: Wohnt er hier oder ist es ein Ablenkungsmanöver (…ich glaube, es ist ein Er.)? Als das Ordnungsamt Aufkleber mit der Aufforderung zur Entsorgung an alle verwaisten Räder in der Gegend angebraucht hatte, auch an dieses, stand es tags darauf mit abgekratztem Aufkleber auf der anderen Straßenseite. Ich schließe daraus: Das Fahrrad wird benutzt und der Benutzer geht täglich daran vorbei. Außerdem, er und ich wohnen noch oder wohnten zeitweise in derselben Straße. Mittlerweile ist es verschwunden. 

#fckrPim2elGate, vollgestopfte Müllsäcke, #type_ALt.+1, ein demoliertes Mofa, 76, dutzende Autoreifen, 6auf aufgeweichten Sofas und Sesseln, auf endlos vielen demolierten Essstühle, angepinkelten Matratzen, ausrangierte Kühlschränken, Lampen, Regalbrettern. Auf aller Art Schrott illegal entsorgter Haushalte findet man sie, wenn man ein Auge dafür hat. Solange es Müll gibt, wird es sie geben. Ich habe tausende Fotos davon, mehr als von mir. Viele der 6en entdecke sogar ich erst auf den Fotos, wenn sie der Bildkontrast vom profanen Hausrat absetzt. Wahnsinn, da gibt es einen Menschen, der sein gesamtes Leben der Produktion dieser Zeichen unterwirft! Manchmal fange ich auch ganz besondere Zeichen ein: keySstroke.tk# mit einem gemalten Finger, der zwischen die Tasten und oder zwischen F5 und F6 tippt, jüngst auch zwischen C undV3urlS/matheS txt macro #strg #1cm.de/s. Ich habe jeden Tab und alle URLs ausprobiert. Insta, Twitter, whatever. Man stößt auf nichts. 

Ich werde es niemandem erzählen, wenn ich ihn entdeckt habe. Unter keinen Umständen würde ich etwas preisgeben. Denn er würde mit seinem Werk verschwinden. Ja, sobald es ein mediales Interesse gäbe und man die Zeichen in Netzwerken und Galerien anhimmelte, würde sich ihr Geheimnis in Luft auflösen. Im Alltag überlege ich mir gut, wen ich darauf aufmerksam mache. Grundsätzlich erwähne ich eine 67 vor keinem, der als Grafiker oder Kreativer irgendeiner Art arbeitet und sie direkt in die Verwertungsmaschine integrieren würde. Eine 67 und eine habe ich vor meiner Tür stehen, strahlend auf zwei schwarzen Einbauschrankwänden. Ich gebe damit nicht an. Ich weise nur auf meine Bewunderung hin. Außerdem sind sie absolut unauffällig. Nicht ein Gast hat sie je bemerkt. Auch nicht Rico (der kann mich mal wie die anderen auch). Es weiß also niemand, dass ich viele Lieblinge vor der Müllabfuhr gerettet habe und sie im Keller verstecke. Es hat die gestrige Nacht gebraucht, sie alle hochzuholen in die kleine Wohnung, die ich angemietet habe, und meinen alten Hausrat im Keller zu verstauen. Nun ist es in der Wohnung ein bisschen wie ein Schrein, nur leuchtender. Eine Installation.

Ja, noch am Morgen wollte ich mich auf die Lauer legen und ausfindig machen, wie jemand seit einer Ewigkeit diese Kometen hinterlässt. Ein Überbringer der Botschaft: Dass Kunst weiterhin machbar ist. Dass wir wieder Menschen sind. Dass es noch einen Grund gibt sich zu verlieren, alles aufzugeben, um ganz zu lieben. Es müsste einfach jeder die Botschaft erblicken und erhören. Viele werden. Am Ende wir alle. Nur nicht von mir. Jetzt trage ich meine beiden letzten Bretter, mit denen ich die Küchenzeile vervollständige und mir kein größeres Geschenk hätte machen können, rein zu mir. Dann nur noch beten. 

© Patrick Schneider, 2020